Leonardo Bittencourt weiß, was er will – und was nicht. Leere Floskeln sind nicht so sein Ding. Der 31-jährige Profi des SV Werder Bremen spricht deshalb im zweiten Teil des Deichstube-Interviews offen über einen möglichen Wechsel ins Ausland, Versagensängste bei Heimspielen, seinen fußballverrückten Vater und ein Team mit spezieller Chemie.
Reicht es Ihnen, wenn sich erst Ende Mai über Ihre Zukunft ausgetauscht wird?
Ja, jetzt haben wir ja nur noch sechs Wochen in der Liga vor uns, damals haben wir es ganz genauso gemacht. Wenn es einen anderen Plan gibt, werde ich mir gewisse Sachen danach vielleicht intensiver anhören. Ich kann mir aber gut vorstellen, noch länger hierzubleiben oder sogar zu verlängern. Aber das sind alles Sachen, die wir dann in Ruhe besprechen können.
Hat denn schon jemand angeklopft, der anderswo eine Tür für Sie öffnen würde?
Es eröffnen sich immer Möglichkeiten. (grinst)
Inland oder Ausland? Vor zwei Jahren haben Sie in einem Deichstube-Interview erklärt, dass Sie gern noch ein Abenteuer in den USA, Brasilien, Spanien oder Italien erleben würden.
Da, wo ich es mehr fühle. Es ist nicht so, dass ich unbedingt ins Ausland will. Ich bin einfach ein Bundesliga-Kind. Je älter man wird, desto mehr müssen auch gewisse Rädchen ineinandergreifen. Meine Familie spielt eine große Rolle. Mein erster Ansprechpartner ist auf jeden Fall Werder.
In Kiel hat Ihre Mannschaft zuletzt überzeugt, allerdings wurde es Ihnen und Ihren Kollegen auch nicht allzu schwer gemacht. Am Sonnabend kommt Eintracht Frankfurt zum Topspiel unter Flutlicht ins Weserstadion, da dürfte eine andere Intensität herrschen. Müssen Sie da nochmal eine Ansage machen?
(lacht) Warum denken immer alle, dass ich das mache? Die anderen Jungs machen das genauso! Siegen ist halt immer schöner, als zu verlieren. Das merkt man unter der Woche, das merkt man nach dem Spiel. Und das sollte der Ansporn sein. Wir haben jetzt 36 Punkte. Ich bin ein Freund davon zu sagen, dass man mehr Zähler holen will als in der Vorsaison. Da waren es 42. Wir haben jetzt spannende Wochen vor uns. Und wir haben unsere Fans gerade zu Hause nicht viele schöne Siege geschenkt zuletzt.
Nicht nur zuletzt, das ist auch in vorherigen Saisons schon passiert. Ist die Versagensangst vor eigenem Publikum zu groß?
Ich glaube schon, dass wir zu Hause teilweise gehemmter sind. Es ist echt laut im Weserstadion, positiv wie negativ. Im Pokalspiel gegen Darmstadt war es so unglaublich laut, als wir das späte Siegtor erzielt haben. Ich habe hier schon einiges erlebt und dachte, dass es nicht mehr lauter ging – doch im Weserstadion toppen die Fans das immer wieder aufs Neue. Umgekehrt bekommt man die Unzufriedenheit auf den Rängen mit. Davon müssen wir uns aber loslösen. Durch den Sieg in Kiel und mit nun 36 Punkten müssten eigentlich auch die Zweifel beiseitegeschafft sein, dass es noch nach unten gehen könnten. Zuletzt in Kiel habe ich den Jungs vorher auch einfach gesagt, dass sie einfach nur Fußball spielen sollen.
Es ist kaum vorstellbar, dass genau das in einer Profimannschaft erwähnt werden muss.
Der Druck von innen und außen ist als Fußballer sehr groß. Viele Spieler auf der Welt haben zwar enormes Talent, können aber mit dem Druck nicht umgehen, weil du immer nur Fußball im Kopf hast. Du musst gut spielen, deinen Körper regenerieren und zusehen, dass du fit bist. Dann denken einige darüber nach, was die Leute wohl über einen denken und wie man bewertet wird. Deshalb sage ich den Jungs, dass sie eigentlich genau das machen sollen, was sie seit zig Jahren machen. Wir spielen 100.000 Pässe, schießen genauso oft aufs Tor. Wir haben jeder auch schon 5000 Fehlpässe gespielt, aber am Ende ist es nur Fußball. Deshalb hol‘ dir den Ball wieder und spiele dein Spiel.
Bei aller Liebe zu Werder: Wie wahnsinnig haben Sie die letzten Jahre in Bremen teilweise gemacht?
Ich verliere Haare. (lacht) Aber es ist trotzdem eine geile Reise. Es ist der Verein, bei dem ich am längsten bin, habe Höhe und Tiefen erlebt. Aber es überwiegen immer die Höhen. Wenn es irgendwann vorbei ist, werde ich sagen können, dass es trotz einiger schlimmer Momente auch sehr viele schöne Tore und Erlebnisse gab – aber eben auch viele graue Haare. Wir haben eine tolle Mannschaft über Jahre hinweg. Wir sind wie Brüder. Eigentlich hassen wir uns, aber irgendwo ist das Blut halt dicker als Wasser. Wir können dann nicht sauer aufeinander sein.
Was heißt denn „hassen“?
Du haust deinen Bruder ja auch anders als jemand anderen. Du bekommst von der Mutter vielleicht Ärger, aber am Ende verträgt man sich sowieso. Und dann ist der Umgang insgesamt auch respektvoller. Manchmal übertreiben wir es wie Brüder komplett, aber am nächsten Tag schauen wir uns an und einer sagt: ,Ich habe übertrieben, oder?‘ Und dann ist das geklärt. Wir haben hier eine familiäre Atmosphäre aufgebaut, die sehr angenehm zum Arbeiten ist. Manchmal sind wir vielleicht sogar zu lieb, deshalb knallt es dann auch ab und an. Grundsätzlich sind wir ein sehr cooler, eingeschworener Haufen.
Kommen wir von der einen Familie zur anderen: Ihr Vater Franklin war selbst Profi, ist inzwischen häufig bei Ihren Trainingseinheiten und auch Spielen zu Gast. Was passiert eigentlich mit der Familie Bittencourt, wenn Sie wirklich aufhören?
Dann hat mein Vater am Wochenende nichts mehr zu tun. (lacht) Mein Sohnemann ist fünf und wird dann der nächste Profi. Deswegen will ich auch noch möglichst viele Spiele machen, damit er es nicht so leicht hat, mich einzuholen. Mein Vater hatte nur 61 Bundesligapartien, ihn hatte ich nach anderthalb Jahren eingeholt.
Gibt es irgendetwas, das Sie später als Fußball-Rentner anders machen als Ihr Papa?
Er hat fast kein einziges Spiel von mir verpasst. Nur eines – halten Sie sich fest – ausgerechnet gegen Leverkusen, weil er im Stau stand. Ansonsten fährt er von Köln aus überall hin, auch wenn ich nicht einmal spiele. Weil er früher als Scout gearbeitet hat, macht ihm die Fahrerei nichts aus, aber ob ich das später wirklich auch bei meinem Sohn schaffe, will ich nicht versprechen – obwohl ich ihn mindestens genauso lieb habe.
Ist Ihr Vater auch Ihr erster Vertrauter, wenn es um Ihre Karriere geht?
Wir tauschen uns häufig aus, aber im Endeffekt sagt er mir, dass ich die Entscheidung treffen muss. Ich frage mich gerade, wie er das mit der Fahrerei machen würde, wenn ich im Ausland wäre. Ich will ja keine zusätzlichen Lasten verursachen.
Also können Sie gar nicht ins Ausland wechseln.
Eigentlich nicht. (lacht) Am Ende werden wir es sehen. Das bekäme man schon alles unter einen Hut.