Herr Henke, was bedeutet das Urteil für die Krankenhaus-Ärztinnen und -Ärzte in Deutschland?
Rudolf Henke: Die Verfassungsrichter sind in zentralen Punkten unserer Auffassung gefolgt und haben weitreichende Schutzvorkehrungen für sogenannte Minderheitsgewerkschaften verlangt. Die angestellten Ärztinnen und Ärzte können sich darauf verlassen, dass der Marburger Bund weiterhin eigenständig und unabhängig ihre gewerkschaftlichen Interessen vertritt, das schließt arztspezifische Tarifverträge mit ein.
Der Marburger Bund wird also weiterhin kräftige Gehaltssteigerungen für Klinikmediziner ausverhandeln, während Pflegekräfte und andere Beschäftigte mit den Verdi-Abschlüssen vorlieb nehmen müssen?
So hat sich das bisher schon nicht dargestellt. Mit unseren Tarifabschlüssen bewegen wir uns im Rahmen dessen, was andere Gewerkschaften auch erreichen. Der Unterschied liegt darin, dass wir Wert darauf legen, die berufliche Realität unserer Mitglieder im Blick zu behalten. Wir kennen die Probleme der Ärzte und wollen mit unseren Tarifverträgen Verbesserungen erreichen.
Entledigt sich der Marburger Bund damit nicht der Solidarität gerade mit weniger durchsetzungsfähigen Belegschaftsteilen, die gute Lohnabschlüsse und Manteltarifvereinbarungen am nötigsten hätten?
Wir wissen, dass unsere gewerkschaftliche Arbeit in den zurückliegenden Jahren aufmerksam von anderen Berufsgruppen im Krankenhaus verfolgt worden ist und nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat. Das gemeinsame Interesse, die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus zu verbessern, hat uns schon immer verbunden. Im Krankenhaus ziehen Ärzte, Physiotherapeuten, Arztassistenten und Pflegepersonal an einem Strang – zum Wohle des Patienten. Daraus kann durchaus ein tarifpolitischer Schulterschluss erwachsen. Das schließe ich gar nicht aus.
Arbeitgeber befürchten, dass nun viele kleine Gewerkschaften wie Pilze aus dem Boden schießen, um Interessen kleiner, aber einflussreicher Berufsgruppen durchzusetzen. Wie viele unterschiedliche geltende Tarifverträge innerhalb eines Unternehmens halten Sie für zumutbar?
Es hat bisher schon keine Probleme mit der Tarifpluralität gegeben. Das ist doch eine Mär der Arbeitgeber. Die Unternehmen sind in der Lage, eine Vielzahl unterschiedlicher Arbeitsverhältnisse mit allen möglichen Ausnahmetatbeständen zu managen. Da wurde über Jahre ein Popanz aufgebaut. Es gibt eine Handvoll tariffähiger Berufsgewerkschaften. Dabei wird es aller Voraussicht nach bleiben. Gewerkschaft zu werden ist gar nicht so einfach, wie es manche Äußerung der Arbeitgeberverbände vermuten lässt.
Halten Sie eine Fortsetzung des Rechtsstreits vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für möglich? Was erwarten Sie gegebenenfalls davon?
Es gibt diese Option, der Gang vor den EGMR hat aber keine aufschiebende Wirkung. Bis dort entschieden ist, gibt es längst eine neue Fassung des Gesetzes, oder es ist sogar aufgehoben.