An den Abschied von seiner ersten Familie kann er sich nicht erinnern. Auch nicht an die Ankunft in seiner neuen. Da ist nur ein großes Loch. Und ein Schmerz, der zu groß ist für das Kind. Also versteckt es ihn für lange Zeit tief im Innern.
Ralf Lengen, geboren in Oldenburg, lebt die ersten fünf Jahre seines Lebens in Isfahan und Teheran, Iran. Seine Mutter ist nach der Scheidung vom Vater, einem Iraner, nach Bremen gezogen und auf sich gestellt. Die junge Frau muss das Leben mit ihren drei Kindern allein stemmen. Sie fasst einen folgenschweren Entschluss. Am 31. Juli 1973 erscheint ein kleines Inserat in der Nordwest-Zeitung in Oldenburg. Dort steht, zwischen „Raumpflegerin gesucht“ und „Rentner für leichte Gartenarbeit gesucht“: „Welche kinderliebe Frau oder welches Ehepaar nimmt fünfjährigen Jungen in Pflege?“
Lengens Mutter bekommt zwölf Zuschriften, drei davon erscheinen seriös. Sie schreibt die Eheleute Lengen an, die schreiben zurück. Das Paar ist ungewollt kinderlos und sehnt sich nach Nachwuchs. Die Sache nimmt ihren Lauf – ohne, dass das Kind irgendetwas beeinflussen kann.
Der Mensch, der für ihn am wichtigsten ist, schickt ihn weg
Die Erwachsenen und das Jugendamt entscheiden. Der Vater stemmt sich dagegen – ohne Erfolg. Der Fünfjährige wird getrennt von seinen Eltern, den Geschwistern und seinen persischen Wurzeln. Er bekommt neue Eltern, ein neues Zuhause in Oldenburg, ein neues Leben. Ein gutes, ein besseres Leben, wie er sagt. Aber er verliert etwas Essenzielles: den festen Boden unter den Füßen und die Gewissheit, gewollt zu sein. Denn der Mensch, der für ihn am wichtigsten ist, schickt ihn weg.

„Mein Adoptionsrucksack ist voll von Verlustangst, Bindungsangst und Kontrollstreben“, schreibt Ralf Lengen in seinem Buch „Ins neue Leben getreten – Adoption und Pflege aus Sicht des Kindes“.
Er passt sich an. Fragen stellt er keine – aus Angst, erneut fortgeschickt zu werden. Der Junge sieht seine erste Familie zweimal im Jahr, zum Geburtstag und zu Weihnachten. „Bremen ist für mich ein furchtbares Wort“, sagt der erwachsene Ralf Lengen. Er erinnert sich, dass seine Mutter Sabine nach Oldenburg kam, um ihn abzuholen. Es waren schwierige Fahrten. „Nimmt sie mich mit, damit ich bleiben kann? Bringt sie mich wieder zurück?“ Als Sechs- oder Siebenjähriger habe er einmal eine Woche bei ihr in Bremen verbringen sollen. „Nach drei Tagen wollte ich wieder nach Hause.“ Mit 14 bricht er den Kontakt ab und nimmt ihn erst 17 Jahre später wieder auf.
Als Ralf Lengen langsam bewusst wird, dass etwas in seinem Leben nicht richtig läuft, ist er bereits Mitte 40. Er hat seinen Doktor gemacht, steht voll im Berufsleben, ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Etwas beginnt aus der Spur zu geraten, nachdem er jahrelang gut funktioniert hat. Midlife-Crisis, denkt er, und besucht den Pastor. Der fragt ihn, was eigentlich mit seinen Eltern los sei. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn Lengen hat ja vier Eltern.
Adoption prägt das ganze Leben von Ralf Lengen
Aber die Frage stößt etwas an. Er beginnt eine Therapie und recherchiert. Er liest und sieht sich alles an, was er über Adoption und Pflegschaft findet, und schreibt selbst ein Buch. Es heißt „Ins neue Leben getreten – Adoption und Pflege aus Sicht des Kindes“. Darin erzählt er von seinen Erfahrungen und Gefühlen. Er geht den Paradoxa der Adoption auf den Grund. Hunderte Zitate hat Lengen für sein Buch gesammelt – von Psychologen, Prominenten wie Marilyn Monroe oder James Brown, betroffenen Kindern und Adoptiveltern. Damit belegt er, dass er mit seiner Geschichte nicht allein steht.
„Ich hoffe, dass ich mit dem Buch etwas anstoße“, sagt der heute 54-Jährige. Seine Mutter Sabine hat die Kapitel Korrektur gelesen und ein paar Zeilen als Vorwort geschrieben. „Ich hatte damals nicht die Weitsicht. Ich habe nur auf die Gegenwart geschaut. Nicht im Entferntesten habe ich geahnt, was das alles nach sich ziehen würde. Du hast viel durchgemacht. Das tut mir sehr leid.“
Ralf Lengen lebt mit seiner Familie in Berlin. Er mag American Football, ist Fan der Pittsburgh Steelers, er ist Autor und Verleger. Dass er adoptiert ist, prägt sein Leben und seine Beziehungen zu anderen Menschen, selbst zu seinen vier Kindern. „Mein Adoptionsrucksack ist voll von Verlustangst, Bindungsangst und Kontrollstreben“, schreibt er. In seiner Familie sei er manchmal „grün vor Neid“, weil er das, was seine Kinder leben, nicht hatte. Zerrissen fühle er sich zwischen seinen beiden Müttern. Hat er in Bremen zu tun, bekommt er ein schlechtes Gewissen, weil er lieber seine Schwester als seine Mutter Sabine besuchen will.
Adoption rief bei Ralf Lengen Scham hervor
Jede Adoptionsgeschichte ist anders, aber bei allen geht es um dieselbe Verwundung, verlassen worden zu sein. Pflege- und Adoptivkindern fehle es an Trost, es sei ihnen nicht erlaubt, zu trauern, glaubt Lengen. Sie müssen vielmehr eigenverantwortlich mit überwältigenden Gefühlen umgehen. Viele fühlen sich unverstanden, einsam und als zweite Wahl. Lengen berichtet von der Scham, die er empfindet, weil er für seine erste Mutter nicht gut genug war. Wie soll er dann für andere gut sein? Er erzählt von der Verdrängung, die bewirkt, dass er mehr als vier Jahrzehnte das Thema Adoption und die damit verbundenen Gefühle komplett ausgeklammert hat. „Sie ermöglichte es mir, zu überleben und zu funktionieren.“ Sie half ihm, den Schmerz im Innern lange Zeit nicht zu spüren.
Das Thema scheint gesellschaftlich heikel zu sein. Lengen muss sich rechtfertigen, weil er anders aussieht als seine Adoptiveltern. Er bekommt häufiger zu hören, dass er es doch gut gehabt habe und es anderen viel schlimmer ergehe. Er sei doch ein Wunschkind gewesen. Adoption und Pflegschaft werden von Gesprächspartnern oft schön geredet, so seine Erfahrung. „Jeder ahnt: Etwas Schlimmes muss in der Herkunftsfamilie vorgefallen sein, wenn es zur Adoption kommt. Aber niemand will so tief in den Schmerz des Kindes eintauchen.“
Was könnte das verändern? „Eine Kommunikation, die die Herkunft des Kindes würdigt. Die den Schmerz und die Schwächen sieht und Trauer zulässt. Und Mitgefühl“, sagt Lengen. In den Adoptivfamilien könnte eine offene Kommunikation sogar ein Wir-Gefühl schaffen, ist er überzeugt.
Das Versöhnliche an Ralf Lengens Buch: Er verurteilt nicht. Im Gegenteil, er bringt viel Verständnis für alle Beteiligten auf. Heute ist er auch in Kontakt mit der Familie seines verstorbenen Vaters. Fünf Monate war er in Iran. Er blickte in die Gesichter seiner Geschwister und Halbgeschwister und erkannte sich selbst wieder. Das hat er zeitlebens vermisst. Am liebsten würde er alle miteinander verbinden. Am Schluss seines Buches beschreibt er einen Tagtraum. Geträumt von einem Fünfjährigen und einem 54-Jährigen gleichermaßen. Er sitzt an einem Tisch mit seinen vier Eltern, seiner Frau und seinen Kindern. „Wir essen, wir erzählen, wir lachen.“ Es wird Zeit, zu gehen. „Ich winke ihnen liebevoll hinterher und freue mich, dass sie sich gut verstehen. Und dass sie einander schätzen.“