Herr Grundmann, Sie warnen vor einem Ärztemangel in Bremen. Ist das bereits der Fall?
Johannes Grundmann: Der Ärztemangel ist in bestimmten Bereichen bereits akut. Vor allem in sozial benachteiligten Quartieren oder Stadtteilen gibt es einen Mangel – insbesondere im Bremer Westen, speziell in Gröpelingen und Walle, und auch in Bremerhaven.
Woran liegt das – wenn man auf die Zahl der Arztsitze in Bremen schaut, gibt es statistisch sogar eine Überversorgung.
Ja, aber die Verteilung ist ungleich. Manche Stadtteile sind für die junge Arztgeneration nicht attraktiv – auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten.
Warum ist das nicht lukrativ – erhalten Ärztinnen und Ärzte nicht mehr oder weniger identische Pauschalen pro Patient im Quartal?
Es geht auch um das Verhältnis von Privat- und Kassenpatienten, für Privatversicherte kann ein höherer Satz abgerechnet werden. In Stadtteilen mit einem höheren Privat-Anteil müssen weniger Patienten behandelt werden, um auf eine bestimmte Summe zu kommen. Dazu kommt für viele Nachwuchs-Mediziner, dass die Patientenversorgung in sozial benachteiligten Stadtteilen meistens aufwendiger ist. Sprachbarrieren etwa erfordern eine intensivere Kommunikation. Diese zusätzliche Zeit wird in der Vergütung nicht abgebildet. Es ist sicher nicht so, dass Ärztinnen und Ärzte sich die Zeit nicht nehmen wollen, sie müssen aber viele Patienten behandeln, um wirtschaftlich arbeiten zu können.
Welche Ärztinnen und Ärzte fehlen in Bremen?
In Bremerhaven fehlen ganz aktuell Hautärzte, vor ein paar Monaten waren es Hausärzte. In Gröpelingen fehlen akut Urologen, es gibt keine einzige urologische Praxis mehr.
Muss es denn zwingend in jedem Stadtteil jede Facharztrichtung geben – wenn einige Bus- oder Bahnhaltestellen entfernt die nächste Praxis ihren Sitz hat?
Grundsätzlich sicher nicht, zumindest, was Fachärzte betrifft. Auf dem Land ist es der Regelfall, dass je nach Wohnort mehrere Kilometer gefahren werden muss. Haus- und Kinderärzte jedoch sollten möglichst wohnortnah erreichbar sein, gerade in Stadtteilen mit besonderen Herausforderungen.
In ländlichen Gebieten werden Ärztinnen und Ärzte mit finanziellen Anreizen gelockt.
Das gibt es hier auch: In Bremerhaven hat die Kassenärztliche Vereinigung, die für die Besetzung der Arztsitze zuständig ist, zum Beispiel Investitionszuschüsse gegeben. Es gibt auch Mietzuschüsse und für die Anfangszeit eine Umsatzgarantie. Man kann viele Anreize schaffen – entscheidend bleibt aber, ob der- oder diejenige überhaupt in den Stadtteil will. Die Lage wird künftig noch angespannter: Bis zum Jahr 2030 werden nach Schätzungen etwa 10.800 Hausärztinnen und -ärzte bundesweit fehlen. Zur Einordnung: 2020 haben 1600 Hausärztinnen und -ärzte ihren Abschluss gemacht. Das ist eine riesige Lücke, die auch in Bremen immer größer wird. Der Ärztemangel steht, er wird sich verschärfen – und wir müssen daran arbeiten.
Es gab Pläne, in Bremen einen Medizin-Studiengang aufzubauen – zumindest den klinischen Teil –, um vor Ort Ärztenachwuchs auszubilden. Dieses Projekt scheint jetzt beerdigt zu sein; es wurde keine Partner-Uni gefunden, wie es vom Senat heißt.
Man wundert sich – und kann sich das kaum vorstellen. Es ist wohl eher eine politische Entscheidung. Andere von der Größe vergleichbare Städte bekommen das auch hin. Und wir haben in Bremen die Kompetenz dafür: Es gibt Kliniken, die akademische Lehrkrankenhäuser für andere Universitäten sind. Das Diako etwa arbeitet mit der Christian-Albrechts-Universität in Kiel zusammen, das RKK mit der Medizinischen Hochschule Hannover, das Klinikum Mitte mit der Universität Göttingen und dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Ich bin überzeugt, Bremen könnte die klinische Ausbildung wuppen. Wir müssen aufpassen, dass wir im Wettbewerb um Ärzte nicht vollends abgehängt werden.
Warum wird Bremen abgehängt?
In anderen Städten werden zunehmend auch private Medizin-Universitäten gegründet: In Hamburg oder Potsdam gibt es solche Medical Schools. In Erfurt soll es ab Herbst 2022 eine private Medizin-Hochschule mit knapp 200 Studierenden pro Semester geben. Als Ärztekammer werden wir bei dem Thema Mediziner-Ausbildung nicht locker lassen. Natürlich kann man niemanden zwingen, in Bremen zu bleiben und sich hier als Ärztin oder Arzt niederzulassen. Aber aus allen Uni-Städten wird berichtet, dass es diesen Klebeeffekt gibt. Das ist sicher auch ein Grund dafür, dass das vergleichsweise kleine Bielefeld ab diesem Wintersemester ein Medizinstudium an der Uni anbietet.
Sie haben die Sorge geäußert, dass die fortschreitende Kommerzialisierung des Gesundheitswesens die Patientenversorgung gefährdet. Was meinen Sie damit konkret?
Ein Beispiel: Aus Gründen der Qualitätssicherung muss eine gewisse Zahl an bestimmten Operationen durchgeführt werden. Da muss man genau hinschauen: Ist die Operation wirklich notwendig oder wird die entsprechende Indikation, also der medizinische Anlass für den Eingriff, aus diesen Gründen großzügiger gestellt. Ein anderes Beispiel sind Untersuchungen, die überwiegend lukrativ für Kliniken sind – wie etwa Herzkatheter-Untersuchungen, die sind sehr lukrativ. Qualitätssicherung ist natürlich sehr wichtig, keine Frage. Überversorgung oder -behandlung als Folge finanzieller Fehlanreize beziehungsweise für die Krankenhausrendite wird allerdings seit Langem von Ärztinnen und Ärzten kritisiert.
Welche Chance haben Patienten, das zu beurteilen?
Wichtig ist eine Anlaufstelle des Vertrauens, meistens ist das die Hausärztin oder der Hausarzt. Es gibt auch die Möglichkeit, eine Zweitmeinung einzuholen, dabei helfen auch die Krankenkassen.
Es gibt sehr gut und weniger gut informierte Menschen – auch Sprachbarrieren spielen eine wichtige Rolle beim grundsätzlichen Zugang zu Präventions- und Gesundheitsangeboten. Wie können weniger gut informierte Menschen besser erreicht werden?
Der Weg sind Angebote in den Stadtteilen, von dort muss oder kann auf die Menschen zugegangen werden. Beispiel ist der Gesundheitstreffpunkt West in Gröpelingen – im Grunde also Gesundheitszentren in den Quartieren. Oder auch Familien- und Mütterzentren. Also Anlaufstellen, über die Familien gerade in Stadtteilen mit besonderen Herausforderungen erreicht werden. In den Zentren gibt es keine medizinische Versorgung, aber Angebote zu Prävention und Teilhabe. Das läuft in Bremen schon gut, muss aber weiter ausgebaut werden. Gerade in der Pandemie, etwa beim Thema Impfen, haben wir gesehen, dass auch viel Aufklärungsarbeit notwendig ist und ortsnahe oder aufsuchende Angebote sehr gut funktionieren.
Das Gespräch führte Sabine Doll.