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Medizinverbrechen Als Ärzte töteten

Nur 26 Jahre wurde Anna Golla alt. Im Oktober 1944 wurde sie im Zuge des NS-Euthanasieprogramms ermordet. Ihr Schicksal wird jetzt in einem Vortrag beleuchtet.
18.02.2019, 18:46 Uhr
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Von Matthias Holthaus

Anna Golla wurde nur 26 Jahre alt. „Liebes Mariechen, mir ist es traurig ergangen“, schrieb sie ein Jahr vor ihrem Tod aus der Anstalt Pfafferode in Thüringen an ihre Schwester. Am 11. Oktober 1944 starb Anna Golla, ein Stolperstein in der Spadener Straße in Bremerhaven erinnert an sie.

Und auch die Kulturwissenschaftlerin Gerda Engelbracht möchte an Anna Golla und an das Schicksal anderer Opfern erinnern: „Bremer Mädchen und Frauen als Opfer der nationalsozialistischen Medizinverbrechen“ heißt ihr Vortrag, den sie am Mittwoch, 20. Februar, um 17 Uhr in der Kriminalbibliothek der Stadtbibliothek halten wird.

„Zwei Jahre zuvor ist bereits Anna Gollas Bruder umgebracht worden, er wurde in der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein vergast“, erzählt Gerda Engelbracht. Neben Pirna-Sonnenstein gab es noch fünf weitere psychiatrische Kliniken in Deutschland und Österreich, die sich auf die Tötung „lebensunwerten Lebens“ spezialisiert haben. Damals wurde Kohlenstoffmonoxid zur Vergasung verwendet, bis zur offiziellen Einstellung des Euthanasieprogramms „T4“ im August 1941. „Die Leute, die dort die Menschen vergast haben, haben ihr Know-how dann in die KZs mitgenommen“, sagt Gerda Engelbracht.

Nach Aktenlage vergast

Über 70 000 Menschen wurden während des T4-Programms vergast. In Berlin in der Tiergartenstraße 4 gingen Meldebögen ein, die zuvor für ausgewählte Menschen ausgefüllt wurden, die bereits länger als fünf Jahre in psychiatrischen Anstalten lebten, bei denen man annahm, dass sie nicht genesen würden und die zudem als nicht arbeitsfähig und pflegeaufwendig galten. Nach Aktenlage entschieden die Zuständigen mit einem Plus-Zeichen, wer vergast werden und mit einem Minus-Zeichen, wer zurückgestellt werden sollte. „Das waren Ärzte, die das gemacht haben, Psychiater!“, empört sich Engelbracht. Und der damalige Chef der Bremer Psychiatrie, Walter Kaldewey, war über diese Praxis nicht nur informiert, sondern zudem auch noch Gutachter.

Doch nicht alle Einrichtungen gingen mit der Euthanasiepolitik konform: „Die Bodelschwinghschen Anstalten zum Beispiel haben sich sehr gegen die Mordaktionen gewehrt. Und der Bischof von Münster, von Galen, hat im August 1941 zu diesem Thema gepredigt. Diese Predigt wurde auf weiteren Kanzeln gehalten, dann wurde das T4-Programm eingestellt.“ In der katholischen, aber auch in der evangelischen Kirche sei klar gewesen, dass man keine Menschen töten dürfe, sagt Engelbracht, zudem seien viele Angehörige auf die Barrikaden gegangen. „Und man hat es ja auch gesehen, wie die Patienten zu den Mordanstalten gefahren wurden. Die Leichen wurden da verbrannt und es gibt Berichte, dass die Menschen drumherum das auch gerochen hätten.“

Mit der Einstellung des T4-Programms ging das Morden auf andere Weise weiter: Überdosierte Medikamente etwa waren die Mittel der Wahl oder das Verhungern lassen der Menschen. „Man geht von mehr als 200 000 Menschen aus, die Opfer dieser Medizinverbrechen geworden sind. In Bremen bekamen die arbeitsunfähigen Menschen ab Kriegsbeginn immer weniger zu essen, in den Akten gibt es Gewichtskurven der Patienten, die ab diesem Zeitpunkt nach unten gehen.“ Auch wurden immer wieder Patienten in die Tötungsanstalten verlegt: Im August 1942 etwa 126 Männer nach Hadamar in Hessen und im selben Monat 40 Frauen nach Uchtspringe bei Stendal, „da hat fast niemand überlebt.“

Auch in Bremen blutige Spuren

Bereits seit 1989 forscht Gerda Engelbracht zum Thema „Nationalsozialistische Medizinverbrechen“. Damals habe es in Bremen geheißen, dass in der Stadt nichts gewesen sei, erinnert sie sich. „Ich habe aber festgestellt, dass es insgesamt mindestens 886 Opfer gegeben hat, darunter 430 Frauen und Mädchen zwischen zwei bis 93 Jahren.“ Denn nicht nur in den Mordanstalten gab es Tote, auch die Zwangssterilisationen forderten Opfer. „Bei Frauen waren diese Operationen sehr aufwendig, außerdem war der Operateur, Professor Schmidt, auf einem Auge blind“, sagt Engelbracht. Zudem hätten die Frauen während der zeitintensiven Operation häufig mit Beruhigungsmitteln ruhiggestellt werden müssen. Mindestens 17 Frauen seien an den Folgen der Operation gestorben.

Anna Golla ist im März 1943 in die Klinik nach Lüneburg eingewiesen worden. Davon ausgehend, dass sie weder gesund wird noch arbeiten kann, ist sie im September 1944 nach Pfafferode verlegt worden, wo sie wenig später starb. „Interessant ist, dass der dortige Direktor, Theodor Steinmeyer, von 1934 bis 1939 Direktor der Heil- und Pflegeanstalten in Bremen war. Er gilt als einer der radikalsten Vertreter der NS-Psychiatrie und als einer der entschlossensten Massenmörder unter den deutschen Anstaltsdirektoren.“ Bedauerlicherweise habe er sich im Mai 1945 im Gefängnis das Leben genommen und konnte somit nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden.

„Das ist wichtig, um sich klar zu machen, wo man aufpassen muss“, antwortet Gerda Engelbracht auf die Frage nach der heutigen Relevanz des Themas. „Und dass solche Dinge nicht mehr passieren, dass sie nicht vergessen werden und dass an die Betroffenen erinnert wird.“ Doch sie ist positiv gestimmt: „Ich habe gerade eine Ausstellung über Jugendfürsorge in der NS-Zeit gemacht, da führen Jugendliche der 10. Klasse aus der Osterholzer Albert-Einstein-Schule als Junior-Guides durch die Ausstellung. Diese Jugendlichen haben sich total reingearbeitet, bei denen hat es viel ausgelöst. Ich glaube, dass es gerade bei jungen Leuten enorm wichtig ist, dass sie sich mit dem Thema auseinandersetzen. Umzu sehen, was passieren kann, wenn man sich auf eine solch schiefe Ebene begibt.“

Weitere Informationen

Gerda Engelbracht hält ihren Vortrag „Bremer Mädchen und Frauen als Opfer der nationalsozialistischen Medizinverbrechen“ am Mittwoch, 20. Februar, um 17 Uhr in der Kriminalbibliothek der Stadtbibliothek, Am Wall 201. Der Eintritt ist frei.

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