Saskia Etzold hat Tausende Spuren von Gewalt gesehen. Verletzungen durch Tritte, Schläge, Fausthiebe oder Würgen. Blaue Flecke, Quetschungen, Risse, punktförmige Einblutungen, ausgeschlagene Zähne, Schnittverletzungen, Brüche und Prellungen, Brandmale von Zigaretten, zugeschwollene Augen. "Häusliche Gewalt kann tödlich enden. Unsere Aufgabe ist es, die Verletzungen sorgfältig schriftlich zu dokumentieren und zu fotografieren", sagt die Oberärztin. "Wir geben den Betroffenen dadurch die Möglichkeit, dass sie vor Gericht mit rechtsmedizinischen Dokumentationen nachweisen können, dass die Verletzungen zum Beispiel nicht etwa durch einen Treppensturz, sondern durch einen Faustschlag verursacht wurden."
Etzold ist Rechtsmedizinerin und Leiterin der Gewaltschutzambulanz an der Berliner Charité. Die Anlaufstelle wurde 2014 eingerichtet, bundesweit gilt sie als Vorbild – ganz aktuell vor allem für Bremen. Im Zuge der Umsetzung der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen wird in Bremen eine Gewaltschutzambulanz eingerichtet. Bei der ersten Sitzung des Runden Tischs zur Umsetzung der Istanbul-Projekte berichtete Etzold über die Erfahrungen aus Berlin, außerdem wurden die Eckpunkte für die Bremer Gewaltschutzambulanz vorgestellt.
Wann und wo wird die Gewaltschutzambulanz in Bremen eingerichtet?
Die Eröffnung mit Sitz am Klinikum Bremen-Mitte ist laut der Gesundheitsbehörde für das Frühjahr 2024 geplant. Die Anlaufstelle soll rund um die Uhr geöffnet sein, wie in Berlin wird das Angebot kostenfrei sein.
Wer kann sich künftig an die Bremer Ambulanz wenden – und was bietet sie an?
Die Gewaltschutzambulanz richtet sich an Opfer häuslicher Gewalt und sexueller Übergriffe – an Erwachsene und Kinder. "Mit der Schaffung einer zentralen Gewaltschutzambulanz am Klinikum Mitte bündeln wir die Kompetenzen im Sinne einer bestmöglichen Versorgung der Betroffenen", sagt Bremens Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke). "Es geht dabei um eine ganzheitliche Betreuung der Betroffenen – von der Akutversorgung der Verletzungen über eine anonyme Spurensicherung bis hin zur psychologische Betreuung." Die anonyme Spurensicherung sei ein wichtiger Bestandteil, da Betroffene von Gewalt sich teilweise erst später zu einer Anzeige entschlössen, betont die Senatorin. In diesem Jahr gibt Bremen 125.000 Euro für eine Anschubfinanzierung aus, in den nächsten beiden Jahren jeweils 200.000 Euro.
Wie viele und welche Betroffene wenden sich an die Gewaltschutzambulanz der Berliner Charité?
"Von der Eröffnung am 17. Februar 2014 bis Ende Dezember vergangenen Jahres wandten sich insgesamt 9405 von Gewalt betroffene Menschen an uns", so Etzold. "4585 von ihnen hatten sichtbare Verletzungen und erhielten einen Termin in der Gewaltschutzambulanz." 3928 Personen hätten den Termin wahrgenommen. 84 Prozent waren Erwachsene – davon 69 Prozent Frauen; in 16 Prozent der Fälle waren es Kinder. Die Charité-Ambulanz richtet sich neben Opfern häuslicher und sexueller Gewalt auch an Menschen, die von interpersoneller Gewalt betroffen sind. Und: "In den vergangenen Jahren hat die Gewalt im Dienst oder am Arbeitsplatz massiv zugenommen", berichtet Etzold. Betroffen seien etwa Rettungskräfte, Pflegepersonal, Busfahrer und -fahrerinnen oder Polizisten und Polizistinnen.
Welche Verletzungen werden in Berlin am häufigsten dokumentiert?
In den meisten Fällen (92 Prozent) hätten die Opfer Verletzungen durch stumpfe Gewalt. Das seien etwa Würgemale oder Mittelgesichtsbrüche. "Bei diesen Verletzungen diagnostizieren wir immer eine potenzielle Lebensgefahr", betont die Rechtsmedizinerin. "In 22 Prozent aller Fälle von häuslicher Gewalt lagen Verletzungen durch Gewalt gegen den Hals vor." Die Dokumentationen der Verletzungen können bis zu zehn Jahre aufbewahrt werden.
Wie macht die Berliner Ambulanz auf ihr Angebot aufmerksam?
Neben der Internetseite gibt es laut Etzold analoge Kampagnen: Flyer etwa, vor allem Aufkleber, die an Spiegel in Restaurants, Clubs, Bars, Kinos, Jobcentern und Unis geheftet werden. "Und es gibt kleine Karten, die hinter den Scheckkarten im Portemonnaie verschwinden. All das gibt es in 15 Sprachen. In U- und S-Bahnen und den Stationen hängen Plakate."
Wie ist die Charité-Ambulanz finanziell ausgestattet?
"Seit der Gründung werden wir von der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz gefördert. 2014 sind wir mit einer jährlichen Fördersumme von 150.000 Euro gestartet, ab 2016 waren es 750.000 Euro", so Etzold. Im vergangenen Jahr wurde die Ambulanz mit 1,2 Millionen Euro vom Justizressort gefördert. Zu der Förderung gehört eine Stelle für die Beratung durch die Opferhilfe in der Ambulanz. Die Gewaltschutzambulanz ist unter anderem auch für Opfer von Terror und Großschadenslagen zuständig, zuletzt etwa nach der Amokfahrt am Kurfürstendamm vor wenigen Wochen.
Gibt es in Bremen bereits jetzt die Möglichkeit, Verletzungen durch Gewalt dokumentieren zu lassen?
Für Betroffene sexueller Gewalt gibt es seit 2012 die anonyme Spurensicherung in Bremen, sie wird von der Beratungsstelle "Notruf" organisiert. Betroffene können sich an eine Klinik wenden und dort sagen, dass sie die anonyme Spurensicherung in Anspruch nehmen wollen. In Bremen sind das die Kliniken Mitte, Links der Weser und Bremen-Nord sowie in Bremerhaven das Klinikum Reinkenheide. Verletzungen und andere Spuren von Gewalt werden dokumentiert, die gerichtsfeste Dokumentation kann bis zu zehn Jahre anonym unter einer Chiffrenummer archiviert werden – für mögliche spätere Anzeigen.
Seit 2010 gibt es die Kinderschutzgruppe der Bremer Kinderkliniken, sie ist an den Häusern der Gesundheit Nord (Geno) vertreten und mit Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften, Sozialarbeitern sowie Psychologen besetzt. Bei Verdacht auf Kindesmissbrauch oder -misshandlung wird die Gruppe eingeschaltet; die Kinder werden untersucht, Verletzungen dokumentiert. Kerstin Porrath und Katrin Griesbach gehören der Gruppe an, die Ärztinnen entwickeln das Konzept der zentralen Gewaltschutzambulanz mit.