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Awareness-Teams Rettungsbojen im Partytrubel des Freimarkts

Der Freimarkt ist nicht nur Jubel, Trubel, Heiterkeit. Es kann auch zu emotionalen Notsituationen kommen. So unterstützen erstmals sogenannte Awareness-Teams die Arbeit von Polizei und Sicherheitskräften.
29.10.2022, 05:00 Uhr
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Rettungsbojen im Partytrubel des Freimarkts
Von Björn Struß

Es riecht nach Bier und Schweiß, die Bänke wackeln unter Dirndl und Lederhosen, vorne spielt "DJ Toddy" einen Schlagerhit nach dem nächsten. "Mich hat ein Engel geküsst" schallt es um 20 Uhr durch die Bayern-Festhalle des Freimarkts. Mickie Krause geht immer. Die Hände recken zahllose Bierkrüge in die Luft. Wenn der Kuss des Engels ausbleibt, gibt es für die Lippen zumindest Gerstensaft in rauen Mengen.

Das Zelt füllt sich, der Alkohol fließt und die Stimmung wird mit jeder Stunde ausgelassener. Maja von Glan weiß, dass sich hinter dieser Fassade auch traurige Momente, Hilflosigkeit und emotionale Notsituationen abspielen können. Sie steht auf der Galerie, das Treiben unter ihr beobachtet sie mit ruhigem Blick. Die junge Frau, schlanke Statur und lange schwarze Haare, trägt eine Warnweste. Nur ist diese nicht neongelb, sondern lila. Nahe der Brust hat von Glan ein Funkgerät griffbereit, auf dem Rücken steht: "L'Unità Awareness".

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Bewusstsein – das ist die Übersetzung des englischen Begriffs Awareness. Dahinter verbirgt sich aber mehr: Ein neuer Ansatz, wie private Sicherheitsdienste auf Großveranstaltungen agieren können. Auf dem Freimarkt sind in diesem Jahr erstmals sogenannte Awareness-Teams im Einsatz. Acht bis zehn Personen unterstützen jeden Abend die Arbeit von Schaustellern, Sicherheitsdienst und der Polizei.

"Die klassische Security-Arbeit fokussiert sich auf Störfaktoren. Sie übernimmt Aufgaben wie Kontrollen oder die Durchsetzung des Hausrechts, um Personen rauszuwerfen", erklärt von Glan. Sich um Menschen zu kümmern, denen es auf einer Party schlecht geht, bliebe oft auf der Strecke. Es könne auch nicht vom Barpersonal erwartet werden, diese Aufgabe nebenbei zu erledigen. "Diese helfende Rolle wollen wir als Awareness-Team übernehmen", sagt von Glan.

Auch die Polizei verspricht, Freund und Helfer zu sein. Doch die Grundausrüstung mit Dienstwaffe, Schlagstock und Pfefferspray kann abschreckend wirken. Von Glan und ihr Kollege wollen es Hilfesuchenden so leicht wie möglich machen, sie anzusprechen. Ihre lila Westen sollen das Signal aussenden: Komm zu mir, hier bekommst du Hilfe. Im besten Fall wirkt das Zweier-Team wie eine Rettungsboje im Partytrubel.

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Im Bayernzelt sind die Feiernden offenbar glücklich, von dem Awareness-Team nehmen sie kaum Notiz. „Ich blicke auch immer in die Randbereiche, abseits des großen Trubels. Wenn es jemanden schlecht geht, sucht er dort Ruhe", erklärt von Glan. Weinen, offensichtliche Orientierungslosigkeit oder Kontrollverlust durch zu viel Alkohol sind für sie Alarmzeichen, bei denen sie Menschen aktiv anspricht. "Unsere Arbeit kann auch darin bestehen, ein Taxi zu rufen und die sichere Heimfahrt zu organisieren."

Eingesetzt und bezahlt hat das Wirtschaftsressort von Senatorin Kristina Vogt (Linke) L'Unità Awareness für ein großes Ziel: Auf dem Freimarkt soll es keine sexuellen Belästigungen oder gar sexuelle Übergriffe geben. Nach Angaben der Schausteller haben die Schankbetriebe und Festzelte mit ihren vielen Mitarbeitern ohnehin einen Blick auf kritische Situationen. Zwar könne es wie bei allen Großveranstaltungen mit Party-Charakter zu Belästigungen kommen, große Probleme mit sexuellen Übergriffen habe der Freimarkt aber nicht.

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Da drängt sich die Frage auf, ob es die zusätzlichen Awareness-Teams überhaupt braucht. Schließlich gibt es auf dem Freimarkt neben den aufmerksamen Schaustellern auch viel Polizeipräsenz und einen konventionellen Sicherheitsdienst mit bis zu 100 eingesetzten Mitarbeitern pro Tag. Von Glan gibt zu, dass der Freimarkt auch ein großer Test ist, um Erfahrungen zu sammeln. Von den emotional aufwühlensten Situationen der vergangenen Tage will sie nicht berichten. „Wenn Betroffene davon lesen, kann dies ein Trigger sein, der das Erlebte zurück ins Bewusstsein holt.“

Das Team von L'Unità Awareness besteht aus insgesamt 35 Personen. Ihr Treffpunkt ist ein Container hinter dem Hansezelt. Dort gibt es auch einen sicheren Raum mit Getränken und Snacks, damit Freimarktbesucher nach emotionalen Ausnahmesituationen zur Ruhe kommen können. Die küssenden Engel von Mickie Krause haben hier Sendepause.

Zur Sache

Seit 2019 im Einsatz

Das Unternehmen L'Unità Security hat laut Inhaber Kai Villbrandt in den Jahren 2016 und 2017 erstmals ein Awareness-Konzept für den Verein Clubverstärker erarbeitet. Bei Großveranstaltungen wurde es 2019 erstmals auf der Breminale und dem Summersounds angewandt. Auch im Viertel sind an Wochenenden regelmäßig Awareness-Teams im Einsatz. Der Freimarkt ist für L'Unità Awareness die bisher größte und längste Veranstaltung. Ob das Wirtschaftsressort die Teams im kommenden Jahr erneut bezahlt, steht noch nicht fest.

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