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Barrierefreiheit Wie eine Bremer Rollstuhlfahrerin den Freimarktbesuch erlebt

Unter den Besuchern des Bremer Freimarkts sind jedes Jahr auch viele Rollstuhlfahrer. Doch wie barrierefrei ist das Volksfest inzwischen? Ein Besuch mit einer, die es wissen muss.
27.10.2022, 05:00 Uhr
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Wie eine Bremer Rollstuhlfahrerin den Freimarktbesuch erlebt
Von Kristin Hermann

Es rumpelt. Petra Fiedler richtet ihren Blick gen Boden, mit dem Ziel, die nächste Rille oder das nächste Loch zu umfahren. Sie will nicht stecken bleiben, oder gar hinfallen. Über die unebene Pflasterung zu gelangen, bedeutet für Fiedler pure Anstrengung. Seit acht Jahren sitzt die 53-Jährige im Rollstuhl – an diesem Nachmittag ist die Bremerhavenerin das erste Mal auf dem Bremer Freimarkt. Für den WESER-KURIER wird sie testen, wie barrierefrei das Volksfest ist.

Die Anfahrt gelingt schon mal ohne Probleme. Fiedler und ihr Patenkind Leander ergattern einen der wenigen Behindertenparkplätze, die es rund um das Veranstaltungsgelände gibt. Autofahren kann die ehemalige Kinderkrankenschwester selbst. Der Großteil ihrer rechten Seite ist gelähmt. "Eine richtige Diagnose gibt es leider nicht", sagt Fiedler. So selbstständig sie in vielen Bereichen ist, ganz allein traut sie sich den Besuch auf dem Freimarkt nicht zu. "Dafür erwarte ich zu viele Hürden und Menschen", sagt sie.

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Ihren Rollstuhl bewegt Fiedler nur über Armkraft. Es ist ein Aktivmodell, das weniger sperrig ist und ihr unter anderem das Kippeln ermöglicht. Damit kann sie kleinere Hindernisse besser überwinden. Und von diesen gibt es auf dem Freimarkt so einige. Besonders zu schaffen macht ihr der Boden auf der Bürgerweide. Immer wieder wechselt die Art der Pflasterung, mal sind die Steine gröber verlegt, mal gibt es eine Bodenwelle, die Fiedler nur mit Anschwung überwinden kann. "Zum Glück gibt es kaum Kabelkanäle, die sind fies", sagt sie.

Umrandungen werden zur Hürde

Zugegeben: Die Veranstalter des Freimarkts haben auf die Pflasterung der Bürgerweide wenig Einfluss. "Aber wenn teilweise ganze Steine im Boden fehlen und dadurch gefährliche Löcher entstehen, könnte man als Stadt schon gegensteuern", sagt Fiedler. Sie habe den Vorteil, im Notfall ihr gesundes Bein ausstrecken zu können, um zu bremsen. "Aber das können viele andere Rollstuhlfahrer nicht."

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Gleich zu Beginn fallen Fiedler einige Metallrampen auf, die Fahrgeschäfte und Stände angebracht haben. Sie bezeichnet diese gerne als "Pseudorampen". Zu steil sind sie, sitzen teilweise nicht richtig auf oder werden bei Regen zur Schlitterpartie. Etliche Buden haben überhaupt keine ersichtliche Rampe für Rollstuhlfahrer, darunter viele Getränkeanbieter. Die Festzelte verfügen in der Regel alle über einen Zugang für Gehbeeinträchtigte.

Viele Marktleute haben ihre Buden mit Holz oder Metall umrandet, sodass Rollstuhlfahrer nicht richtig herankommen. Auf lautes Rufen hat Fiedler keine Lust und meidet solche Stände meistens komplett, sagt sie. Besser seien die deutlich flacheren Gummimatten, die einige Betreiber inzwischen nutzen und über die sie problemlos fahren kann. Dennoch hat sie es an den Ständen nicht leicht, da sie aus ihrer Höhe nicht alles überblicken kann.

Behindertentoiletten oftmals auch Abstellkammer

Kurzer Zwischenstopp bei den Toiletten. Neben den WCs in den Festzelten gibt es laut Lageplan vier Behindertentoiletten auf dem Gelände. Ausgeschildert sind diese nur dürftig, findet Fiedler. Bei einer von ihnen bremst die Rollstuhlfahrerin. Eine Mitarbeiterin schließt ihr die Tür auf, ohne Hilfe ihres Patenkindes kommt sie die Rampe jedoch nicht hoch. Ein Blick in die Kabine verrät: Sie scheint gleichzeitig noch als Abstellkammer zu fungieren. "Überrascht mich nicht. Das erlebe ich immer wieder", sagt Fiedler.

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So langsam bekommen die 53-Jährige und Patenkind Leander Hunger. Champignons und Bratkartoffeln sollen es werden. Die Besitzer des auserwählten Standes haben eine flache Gummirampe aufgestellt, um Rollstuhlfahrern den Zutritt zu erleichtern. "Die kosten nicht viel und sind sehr effizient. Wir nutzen solche auch privat", sagt Fiedler. Die Betreiber der Imbissbude "Zur Bratpfanne" reisen jährlich aus Hamburg nach Bremen. "Dort spielt das Thema Barrierefreiheit auf den Volksfesten schon lange eine wichtige Rolle", sagt Inhaberin Angela Hartz-Tolisch. "Wir versuchen, möglichst pragmatische Lösungen zu finden."

Sozialverband fordert mehr Einsatz für Barrierefreiheit

Wo es sich anbietet, weist Petra Fiedler in ihrem Alltag auf eben diese Kleinigkeiten hin, die für Beeinträchtigte einen großen Unterschied machen können. Manche nehmen diese Ratschläge dankend entgegen, andere würden mit Ablehnung reagieren. "Wie bei vielen Dingen im Leben ist Barrierefreiheit auch eine Sache der Haltung", sagt sie. Die Bremerhavenerin engagiert sich seit Jahren im Sozialverband VdK. Der Landesverband Bremen/Niedersachsen forderte die Städte und Kommunen jüngst erneut dazu auf, das Thema Barrierefreiheit in der Prioritätenliste weiter nach oben zu setzen.

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Viele der Fahrgeschäfte kommen für Fiedler nicht infrage. Einen großen Wunsch hat sie bereits zu Beginn des Besuchs. "Ich würde Bremen gerne aus dem Riesenrad von oben erleben", sagt sie. Dort angekommen, staunt Fiedler nicht schlecht. Die Betreiber haben einen kleinen Lift für Gehbehinderte einbauen lassen. Eintritt muss sie keinen bezahlen, ihr Patenkind fährt als Begleiter vergünstigt mit. "Früher habe ich mich daran gestört, da ich das nicht als Gleichbehandlung empfunden habe. Nach all den Jahren mit vielen Zusatzkosten, die wir aufgrund meiner Erkrankung tragen müssen, nehme ich das gerne an", sagt sie.

Ein Mitarbeiter schiebt Fiedler zu der Gondel, die extra für Rollstuhlfahrer gemacht ist – alles läuft reibungslos. Als sie und ihr Patenkind nach der Fahrt wieder unten ankommen, strahlen beide. "Dafür hat sich der Ausflug definitiv gelohnt", sagt sie.

Zur Sache

Das sagt die Behörde

Nach Angaben der Wirtschaftsbehörde gibt es bisher keine Vorgaben für die barrierefreie Gestaltung der Buden und Fahrgeschäfte. Für den Fall, dass sich mehrere Betreiber mit gleichem Angebot bewerben, würden jene bevorzugt, deren Geschäft barrierefrei ist. Das Thema Barrierefreiheit spielt laut Behörde eine immer wichtigere Rolle, sowohl beim Zugang zum Festgelände als auch bei der Nutzung von Buden und Fahrgeschäften. "Hier wird auch individuell viel möglich gemacht – sei es zum Beispiel durch die Anpassung der Fahrtgeschwindigkeit oder indem Mitarbeitende bei fehlendem barrierefreien Zugang Rollstuhlfahrende in den Sitz des Fahrgeschäfts heben", heißt es aus der Behörde. Bei der Bodenbeschaffenheit sieht das Ressort indes noch Verbesserungspotenzial - eine Änderung wäre jedoch mit erheblichen Kosten verbunden.

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