Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Notunterkunft und Wohnheim in Vegesack Besuch bei Bremens größtem Flüchtlingsprojekt

In der ehemaligen Vulkan-Zentrale in Fähr-Lobbendorf entsteht Bremens größtes Flüchtlingsprojekt. In der Notunterkunft wohnen bereits Flüchtlinge, ein Wohnheim ist im Bau. Ein Besuch bei Leiterin Marina Golubew.
30.06.2016, 00:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Besuch bei Bremens größtem Flüchtlingsprojekt
Von Christian Weth

In der ehemaligen Vulkan-Zentrale in Fähr-Lobbendorf entsteht Bremens größtes Flüchtlingsprojekt. In der Notunterkunft wohnen bereits Flüchtlinge, ein Wohnheim ist im Bau. Ein Besuch bei Leiterin Marina Golubew.

Von Marina Golubew will jeder etwas fast jederzeit. Sie parkt gerade ein, schon steht eine Frau neben ihr und fragt um Rat. Kaum sitzt sie im Büro, stecken Menschen im Fünf-Minuten-Takt ihren Kopf herein. Ein Hausmeister, ein Mann vom Cateringservice, ein Polizist, noch ein Hausmeister. An der Wand hinter Golubew hängt wie zur Beruhigung ein Blechschild: „Wo ich bin, ist Chaos.“ Darunter steht: „Aber ich bin nicht überall.“ Die Frau leitet die Notunterkunft in der früheren Vulkan-Zentrale. Momentan ist sie für 246 Flüchtlinge zuständig. Und bald für bis zu 750.

Angefangen hat Marina Golubew quasi mit null. An ihrem ersten Arbeitstag war noch kein Flüchtling da. Auch am zweiten, dritten, vierten und fünften nicht. Mitte April war das. Eine Woche lang hatten die Chefin und ihr Team Zeit, sich einzurichten. Und um sich zurechtzufinden. Wo ist was? In einem Gebäudeflügel mit vier Etagen fällt die Antwort nicht immer leicht.

Im Herbst werden sich Golubew und ihre Mitarbeiter abermals neu orientieren müssen. Dann soll zur Notunterkunft noch ein Wohnheim kommen – und die ehemalige Werft-Verwaltung in Fähr-Lobbendorf Bremens größtes Flüchtlingsprojekt werden: zur zentralen Erstaufnahmestelle der Stadt. Auch das Bundesamt für Migration, die Sozialbehörde und das Jobcenter werden dort Büros haben.

Marina Golubew sitzt an ihrem Schreibtisch und zieht die Stirn in Falten. Sie sagt, dass sie Respekt hat vor der Aufgabe, demnächst nicht nur für die Unterkunft, sondern auch für das Wohnheim verantwortlich zu sein. Für dreimal so viele Menschen wie jetzt. Die Frau ist 29. Sie hat Management studiert, früher mal in einem Fitnessstudio, dann für eine Marktingfirma in einer Kinderklinik in Mexiko gearbeitet. Seither will sie anderen helfen.

Nicht etwa, weil sie selber mal fremd in Deutschland war. Golubew stammt aus Kasachstan. Sie sagt, dass Helfen ihr einfach Spaß macht. Punkt. Vielleicht hat die Arbeiterwohlfahrt, die Trägerin der Notunterkunft ist, sie deshalb genommen: Golubew klingt leidenschaftlich, ohne daraus eine große Sache zu machen.

Vielleicht hat aber auch keine andere Bewerberin und kein anderer Bewerber so viele Sprachen beherrscht wie sie. Golubew spricht Deutsch, Spanisch, Englisch. Und eben Russisch, wie jetzt im Aufenthaltsraum mit der Frau aus Tschetschenien. Sie hat Zahnschmerzen und will von Golubew wissen, was sie jetzt machen soll. Einfach ansprechen, nicht warten. Golubew hält das für die beste, weil schnellste und unkomplizierteste Art, Probleme anzugehen

In der Unterkunft sind alle per Du

Nur den Kindern hat sie inzwischen gesagt, dass sie sich gedulden müssen, wenn sie sich gerade unterhält. Mädchen und Jungen sind ständig um sie herum. Sie wollen ihre Hand nehmen, stecken ihr ein Spielzeug zu, rufen ihren Namen: „Marina!“ Nur der Vorname. In der Unterkunft sind alle per Du.

Auch das ist gewollt. So steht es sogar geschrieben. Die Namensschilder an den Türen der Mitarbeiter sind eigentlich nur Vornamensschilder plus Porträtfoto. Golubew: „Damit sich die Menschen so schneller merken können, wer wer ist und welche Aufgabe hat.“ Alexander, der mit vollem Namen Alexander Heckmann heißt, ist Hausmeister. Silke, eigentlich Silke Karsten, ist Koordinatorin von Integrationsprojekten. Sie sitzt mit anderen Helfern wie dem Dolmetscher im Büro rechts neben Golubew. Die Hausmeister haben ihre Zentrale links von ihr.

Das Team kommt auf knapp 22 Stellen. Alle Mitarbeiter sind auf einem Flur im Parterre, gleich neben dem Aufthalts- und Speiseraum, wo tagsüber die meisten Menschen die meiste Zeit über sind.

Wenn nicht Ramadan wäre. Zur Mittagszeit sitzen gerade mal zwei Dutzend Frauen, Männer und Kinder an den Tischen. „Viele“, sagt Golubew, „bleiben während der Fastenzeit lieber auf dem Zimmer, um sich zu schonen.“ Essen gibt es für Muslime, die nach dem Koran leben, später beziehungsweise früher als für alle anderen. Nach Sonnenuntergang und vor Sonnenaufgang.

Cristian Rosselli hat sich darauf eingestellt. Der Mann steht im Speiseraum und sagt, wo was hin soll: hier die Beilagen, dort der Nachtisch. Als Hauptgericht gibt es heute Rindergulasch. Kurz vor zehn am späten Abend und um zwei am frühen Morgen wird er das Büfett noch mal für die strenggläubigen Muslime aufbauen. Rosselli ist der Caterer und bald auch der Koch der Aufnahmestelle. Seine Küche im Nachbarflügel muss erst noch gebaut werden.

Lesen Sie auch

Der Italiener gehört zwar nicht zum Team der Arbeiterwohlfahrt, aber zu den Leuten, mit denen sich Golubew regelmäßig bespricht. Einmal in der Woche kommen alle zusammen. Dann will die Chefin wissen, was gut läuft und was noch besser laufen könnte. Mit Rosselli hat sie die Essensausgabe für die Fastenzeit neu geordnet und dafür gesorgt, dass die zehn Schulkinder in der Notunterkunft jetzt ein Lunchpaket für die Pause bekommen.

Mehr Bewohner sollen bei den Angeboten der Unterkunft mithelfen

Mit Projektkoordinatorin Silke Karsten plant sie, mehr Bewohner als bisher in die alltäglichen Angebote wie die Betreuung von Kindergartenkindern einzubinden. Und mit Hausmeister Alexander Heckmann geht sie den Plan durch, wer auf welcher Etage in welchem Zimmer am besten untergebracht ist.

Golubew konferiert mit den Dolmetschern, um zu wissen, wer wann da ist. Sie spricht mit Ärzten und Psychologen, wenn Bewohner Medikamente und Beistand brauchen. Sie fragt die Wachleute nach Vorfällen. Mal gibt es Streit unter Bewohnern, mal Klagen über das Essen. Kürzlich hat sie einem Flüchtling Hausverbot erteilt, weil er nicht zu beruhigen war. Die Polizei musste kommen und den Mann in eine andere Unterkunft bringen.

Aber meistens, sagt Marina Golubew, ist alles ruhig. So ruhig, dass Politiker schon gesagt haben sollen, man merke gar nicht, dass die Notunterkunft gestartet ist. Bürgermeister Carsten Sieling (SPD) war kürzlich da. Auch Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne). Und demnächst wollen Beiratsfraktionen vorbeischauen.

Auch Anwohner wollen wissen, was sich hinter dem grünen Zaun so tut, der die frühere Werftzentrale mittlerweile umgibt. Manche wissen das längst, weil sie zu den ehrenamtlichen Helfern gehören, die sich engagieren. Auf dem Hof zeigt Mike Maibaum gerade zwei Jugendlichen, wie man mit einer Stichsäge sägt: „Nein, nicht so, sondern so.“ Sie bauen Pinnwände aus Paletten.

Ein Fest soll Bewohner und Anlieger zusammenbringen

In manchen Fluren hängen schon welche. An ihnen sind Einladungen für Deutschkurse befestigt, zum Lauftraining, von einer Firma, die einen Praktikanten sucht. Auch Cristian Rosselli, der Caterer und Koch, hat einem Flüchtling vor Längerem einen Job verschafft. Der Mann arbeitet bei ihm in der Essensausgabe.

Marina Golubew will noch mehr Menschen zusammenbringen. Deshalb soll es ein Fest geben, zu dem auch Anlieger eingeladen werden. Die Leiterin will im Herbst feiern. Wenn die Erstaufnahmestelle startet. Wenn die beiden anderen Gebäudeflügel fertig sind. Nachher wird sie wieder mal auf die Baustelle gehen. Noch eine Konferenz, diesmal mit Architekten.

Heute wollen sie von ihr wissen, wie die Schließanlage ausgestattet sein soll, damit nicht jeder Zugang zu jedem Trakt, Flur und Zimmer hat. Und damit nicht mehr passiert, was momentan noch öfter vorkommt. Fehlalarm. An diesem Tag schrillt der Warnton gleich zweimal, ohne dass irgendeine Gefahr droht. Die Frau steht vor ihrer Bürotür und lächelt: „Irgendwas ist immer.“

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)