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Beziehungsarbeit in der Pflege "Es ist ein unerfüllbarer Anspruch"

Hans Jürgen Wilhelm hat die besondere Beziehung von Pflegekraft und Pflegebedürftigem erforscht. Der Soziologe kennt das Thema als Geschäftsführer von Pflegeinrichtungen auch aus ganz praktischer Anschauung.
25.03.2023, 05:00 Uhr
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Von Timo Thalmann

Haben Pflegekräfte immer eine besondere Beziehung zu den Pflegebedürftigen?

Hans Jürgen Wilhelm: Das wird zwangsläufig so sein. Denn es gibt wenig andere Tätigkeiten, bei denen die normale zwischenmenschliche Distanz so aufgehoben wird, wie in der Pflege. Eine Pflegekraft ist ja ganz schnell in intimer Nähe zum Gepflegten. Das meine ich nicht nur rein körperlich, sondern auch in biografischer Hinsicht. Sie erfährt meistens viel Privates aus der Lebensgeschichte, lernt Vorlieben und Abneigungen kennen, wie es in partnerschaftlichen oder freundschaftlichen Beziehungen typisch ist. Also ja, das ist schon eine besondere Beziehung.

Welche Folgen hat es dann, wenn Pflegekräfte eine Einrichtung verlassen? Verlieren Pflegebedürftige dadurch wichtige Vertrauens- und Bezugspersonen?

Das kann schon passieren. Aber es ist natürlich die Aufgabe einer Leitung, so etwas zu erkennen und aufzufangen. Anders als früher müssen Pflegeheime heute außerdem mit einer zweifachen Fluktuation zurechtkommen. Nicht nur Mitarbeiter verlassen die Häuser, auch die Bewohner sind nicht mehr so lange da, weil das Pflegeheim heute immer die letzte Lösung ist, die zum Zuge kommt, wenn es nicht mehr anders geht. Es bleibt also beiden Seiten wenig Zeit, sich aufeinander einzustellen. Umso wichtiger ist es, ganz bewusst gesunde und professionelle Beziehungen aufzubauen, die ja unmittelbar die Qualität von Pflege beeinflussen. Das ist eine häufig unerkannte Herausforderung.

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Stellt die von Ihnen beschriebene besondere Nähe auch besondere Anforderungen an Pflegekräfte?

Das für mich Bemerkenswerte ist, dass die Art der Beziehung im Alltag fast nie definiert wird. Rein formal betrachtet haben wir ein Verhältnis von Kunde und Dienstleister, also irgendwie auf Augenhöhe. Andererseits ist die pflegebedürftige Person auf die Zuwendung durch die Pflegekraft unter Umständen existenziell angewiesen. Die eine Seite ist überspitzt gesagt hilflos, die andere Seite der Retter. Das beschreibt ein deutliches Machtgefüge. Beide Extreme entsprechen nicht dem Selbstbild der meisten Pflegekräfte.

Wie sieht dieses Selbstbild aus?

Pflegekräfte beschreiben ihr Verhältnis zu den Bewohnern im Pflegeheim häufig als zeitlich begrenzte freundschaftliche Beziehung. Aber das scheitert früher oder später, weil es ein unerfüllbarer Anspruch ist. Ich habe selbst erlebt, wie Pflegekräfte von Bewohnern zu ihren Geburtstagen eingeladen wurden, die diese Einladung aber mit Verweis auf ihren freien Tag ausschlugen. Das würde man bei einer echten Freundschaft nie machen. Ganz im Gegenteil: Da würde man sagen, ist ja super, da habe ich frei, ich komme gern.

Vielleicht verstehen Bewohner die professionelle Zuwendung auch falsch?

Das kann man nicht ausschließen, aber ich provoziere mal und stelle die Professionalität an dieser Stelle infrage. Denn das hieße für die Pflegekraft, ihre Beziehung zu den Bewohnern zu reflektieren und eindeutig beschreiben zu können. Das ist aber aus vielerlei Gründen nicht der Alltag in der Pflege. Da wird das Thema wenig besprochen. Nach meiner Erfahrung tun sich Pflegeteams mit Supervision und anderen Instrumenten zur Reflexion ihrer Arbeit sogar richtig schwer, selbst wenn sie ihnen angeboten werden. Dass die Beziehung zu den Pflegebedürftigen ein nicht ganz unwesentlicher Faktor ihrer Arbeit ist und die Qualität von Pflege maßgeblich beeinflusst, führt eben nicht automatisch zu einem professionellen Umgang mit diesem Faktor. Es wird einfach vorausgesetzt, dass jeder „Beziehung“ beherrscht. Das meinte ich vorhin, als ich von einer unerkannten Herausforderung sprach.

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Müsste man also Supervision und Ähnliches zur Auflage für die Pflegeeinrichtungen machen und so ähnlich vorschreiben wie Personalschlüssel und Fachkraftquote?

Ich halte es für einen typisch deutschen Reflex, mögliche Defizite sofort gesetzlich regeln zu wollen. Als Vorgabe bringt das meines Erachtens gar nichts. Dann sitzen die Mitarbeiter das pflichtgemäß ab und dem Gesetz ist Genüge getan. Reflexion über das eigene Tun muss man wollen. Ich halte es für eine Führungsaufgabe, Mitarbeiter dafür zu sensibilisieren. Pflegeeinrichtungen brauchen eine Kultur, in der sich die Mitarbeiter trauen, solche Dinge anzusprechen, gerade wenn sie zum Beispiel Probleme mit einem Bewohner haben. Fertige Antworten, wie die Beziehungen zu gestalten sind, kann es sowieso nicht geben. Ich denke aber, es ist wichtig, ehrlich mit den Pflegebedürftigen umgehen zu dürfen und nicht permanent gute Laune vorspielen zu müssen und jeden Konflikt weg zu moderieren.

Das Gespräch führte Timo Thalmann.

Zur Person

Hans Jürgen Wilhelm (55)

ist seit Dezember 2022 Geschäftsführer der Dienste für Senioren und Pflege der Stiftung Friedehorst in Bremen-Nord. Zuvor war der Soziologe und Wirtschaftsjurist zehn Jahre Vorstand des Elisabeth Alten- und Pflegeheims in Hamburg. Wilhelm hat über das Selbstbild von Pflegekräften promoviert und ist Autor diverser Fachbücher, unter anderem zur Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz.

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