Isabell Winkler: Das kommt ganz darauf an, in welcher Situation man sich befindet. Wer jetzt viel arbeitet oder anderweitig eingespannt ist, für den vergehen die Tage sehr schnell. Wer sich im Lockdown befindet, also sehr viel Zeit zu Hause verbringt und das vor allem als unangenehm empfindet, für den fühlt sich die gleiche Zahl an Stunden sehr viel länger an. Grundsätzlich lässt sich aber sagen: Das Zeitempfinden des Menschen ändert sich ständig, für einen langen Zeitraum wie die Pandemie, die wir gerade erleben, lassen sich deshalb kaum pauschale Aussagen treffen.
Woran liegt es, dass sich eine Stunde mal wie zehn Minuten anfühlt, mal wie eine Ewigkeit?Wie Zeit erlebt wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Einer ist die Aufmerksamkeit: Achtet man bewusst auf die Zeit, vergeht sie langsam. Wer auf den verspäteten Bus wartet, ständig auf die Uhr guckt, den machen schon wenige Minuten ungeduldig – weil sie ihm sehr viel länger erscheinen als normalerweise. Genauso werden Menschen, die das Ende des derzeitigen Lockdowns herbeisehnen, die Zeit als sehr langsam vergehend empfinden. Wer hingegen einen Film guckt und sich amüsiert, der merkt gar nicht, wie die Zeit verfliegt. Weil er seine Aufmerksamkeit nicht auf sie richtet.
Wir sprechen von Ablenkung. Die am besten bestätigten Theorien, die es in der Psychologie gibt, gehen davon aus, dass der Mensch eine Art innere Uhr besitzt. Diese Uhr gibt Takte aus, und das in einer bestimmten Frequenz. Das Gehirn registriert diese Takte und zählt sie für eine bestimmte Periode aus. Der Mensch weiß deshalb ziemlich genau, wie lang sich eine Minute anfühlt. Zumindest, wenn er nicht abgelenkt wird. Versuche haben gezeigt, dass die Zeiteinschätzungen der Probanden sehr viel ungenauer wurde, wenn ihnen im Laufe dieser Minute etwa Bilder gezeigt wurden – weil Takte der inneren Uhr verpasst werden. Die zu schätzende Zeit geht für sie dann schneller herum.
Wer also auf den Bus wartet, dann aber sein Smartphone rausholt, der trickst gewissermaßen seine innere Uhr aus, weil Takte übersprungen werden und die Zeit vermeintlich schneller vergeht?Genau.
Funktioniert das auch für längere Zeitspannen? Gesellschaftsspiele und Puzzles beispielsweise sind in vielen Geschäften deutschlandweit ausverkauft. Eine gute Idee, um die Zeit rumzukriegen?Beschäftigungen, die Spaß machen, dann sogar noch soziale Interaktionen beinhalten, sind gut dazu geeignet, sich abzulenken, ja. Bei unseren Probanden funktioniert oft das Schauen lustiger Filme gut. Interessant ist, dass es nicht reicht, dass die Tätigkeit die Aufmerksamkeit der Versuchsperson absorbiert. Ich habe es zum Beispiel auch mit Knobelaufgaben versucht; sobald die von den Probanden als zu schwierig wahrgenommen werden, achten sie wieder mehr auf die Zeit.
Welche Faktoren gibt es noch?Neben der Aufmerksamkeit, die wir der Zeit widmen, spielt das sogenannte Arousal eine Rolle, also die Erregung, die ein Mensch empfindet. Ein hohes Arousal-Level hat man beispielsweise, wenn man sich erschreckt, körperlich anstrengt oder Schmerzen hat. Je höher der Grad der Anspannung, desto langsamer vergeht die Zeit. Wenn man Liegestütze macht oder Einkaufstüten die Treppe hochschleppt, ziehen sich wenige Minuten sehr in die Länge. Genauso erklärt sich im Übrigen, warum viele Menschen die Augenblicke nach einem Unfall wie in Zeitlupe erleben. Dieser Zustand hält aber immer nur sehr kurz an; sobald das Erregungslevel sinkt, vergeht die Zeit wieder normal schnell. Der dritte Faktor ist die Erwartung: Wer dachte, irgendetwas wird nur wenige Minuten dauern, dann aber warten muss, der erlebt die Wartezeit noch einmal länger.
Spätestens im Dezember fällt er ständig, der Satz „So schnell ist das Jahr noch nie vergangen“. Woran liegt es, dass die Zeit an Geschwindigkeit zu gewinnen scheint?Das liegt an der sogenannten retrospektiven Zeitwahrnehmung. Es geht also nicht darum, dass die Tage im Hier und Jetzt schneller vergehen, sondern um die rückwirkende Einschätzung einer Dauer. Je mehr Erinnerungen aus einer gewissen Zeitspanne existieren, desto länger erscheint sie einem. Wir haben deshalb untersucht, welche Faktoren dazu führen, dass besonders viele Erinnerungen abgespeichert werden: Das sind zum einen neue Erfahrungen, Erlebnisse, die zum ersten Mal gemacht werden. In der Kindheit passiert das die ganze Zeit, ständig ist irgendetwas neu, wird zum ersten Mal gesehen, gefühlt oder getan.
Und je älter der Mensch wird, desto weniger dieser neuen, einprägsamen Erfahrungen macht er?In der Regel schon, ja. Vieles, das Erwachsene in ihrem Alltag tun, kennen sie bereits; weniger sticht heraus, brennt sich ein. Ein weiterer Faktor ist das Ausmaß an Routinen. Je mehr davon der Mensch in seinem Leben hat, desto schneller scheint die Zeit zu vergehen. Und auch Stress und Zeitdruck tragen dazu bei, dass Zeitspannen in der Erinnerung kürzer wirken, als sie waren.
Wäre es dann nicht denkbar, gegen diese Beschleunigung anzuarbeiten? Indem man bewusst wieder mehr zum ersten Mal macht, sich etwa neue Hobbys sucht oder noch unbekannte Orte bereist?Versuche haben wir dazu noch nicht gemacht, aber das würde ich aus unseren bisherigen Erkenntnissen ableiten, ja.
Schauen Sie anders auf die Uhr, seit Sie sich beruflich mit dem Phänomen Zeit beschäftigen?Eigentlich nicht. Vielleicht versuche ich, etwas bewusster zu leben. Ich habe zwei kleine Kinder, an deren Aufwachsen ich mich erinnern können möchte. Das verlangt danach, Prioritäten anders zu setzen, den Arbeitsstress, den ich vorher oft hatte, so gut es geht zu reduzieren. Es ist schwer, das Zeiterleben zu beeinflussen – aber man kann sich darum bemühen, Erfahrungen bewusster zu machen.
Das Gespräch führte Katharina Frohne.Isabell Winkler beschäftigt sich in ihrer Forschung mit dem subjektiven Zeitempfinden des Menschen. Sie lehrt und forscht am Institut für Psychologie der Technischen Uni Chemnitz.