Die erste Begegnung mit Günter Abramzik hatte Peter B. als 15-Jähriger. “Ich war damals am Gymnasium und habe gesehen, wie er durch die Schule gelaufen ist und mit den etwas älteren Schüler gesprochen hat”, erinnert sich der 65-Jährige, der seinen Klarnamen nicht in der Zeitung lesen will. “Ich habe mich gewundert darüber, dass sich dieser großgewachsene, korpulente Mann, von dem ich nicht wusste, wer das ist, ganz anders verhält als die meisten meiner Lehrer: Viel offener, viel unbefangener und fröhlicher. Für mich sehr angenehm.”
Günter Abramzik war damals, Anfang der 70er-Jahre, Domprediger in Bremen, gehörte zur angesehenen Gesellschaft der Stadt, war bei offiziellen Anlässen präsent und mit dem Bürgermeister per Du. Was in Bremen niemand wusste, und was auch Peter B. nicht ahnen konnte: Abramzik, 1992 verstorben, war ein Missbrauchstäter. Und Peter B. sollte das bald am eigenen Leib erfahren.
Als Teenager war er, wie er selber sagt, „ein klassischer Schulversager“, stand unter familiärem Leistungsdruck und besuchte dasselbe Gymnasium wie vor ihm sein Vater, der in den 30ern Klassenbester war. Zu allem Überfluss war der Lateinlehrer ein ehemaliger Mitschüler, der Mathelehrer ein ehemaliger Sportlehrer des Vaters. Der Eintritt in diese Schule war für Peter B. eine Katastrophe, und so schrieb er bald nur noch Fünfen und Sechsen, womit er die Familie zur Verzweiflung trieb. “Ich habe geackert und gebüffelt und gelernt, alles umsonst. Irgendwann habe ich aufgegeben, habe die Schule geschwänzt, bin ziellos durch die Stadt gelaufen und habe mich herumgetrieben wie ein herrenloser Hund.”
Über den Sozialistischen Schülerbund SSB kam er schließlich zur Philosophie-AG von Pastor Abramzik, für Peter B. ein beglückendes Stück Freiheit: “Der Unterricht fand nicht in der Schule statt, sondern in einem Saal der Domgemeinde”, erinnert er sich. Die Jugendlichen saßen auf alten Sofas, rauchten, tranken Bier und diskutierten mit dem Pastor über Texte von Ernst Bloch, Elias Canetti oder Walter Benjamin. „Jeder durfte sagen, was er wollte, keiner wurde belächelt, wir waren einfach alle akzeptiert, und das war schön”, erinnert sich Peter B. Und dabei präsentierte sich der Dompastor als nahbare Autorität. „Wir durften ihn duzen und verspotten, was Lehrern gegenüber schlicht undenkbar war. Dass er uns dann wie nebenbei an Knie, Schenkel oder Hintern griff, gehörte auch dazu.“
Ursachen für Missbrauch sind in der Evangelischen Kirche andere als bei den Katholiken
Manches an den Schilderungen von Peter B. erinnert an andere evangelische Missbrauchsskandale. Denn folgt man Studienergebnissen, die die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs vor der Synode der EKD zitiert, sind die Ursachen für Missbrauch in der Evangelischen Kirche andere als bei den Katholiken: Während beim Missbrauch in der katholischen Kirche oft das überbetonte Priesterbild, der Zölibat und ein verklemmter Umgang der Kirche mit Sexualität den Missbrauch begünstigten, förderten in der evangelischen Kirche vor allem die sogenannte sexuelle Befreiung der 60er und 70er Jahre, eine falsch verstandene Modernität und eine organisierte Verantwortungslosigkeit den sexuellen Missbrauch.
So auch im Fall Peter B: Seine Missbraucherfahrung begann, als Abramzik ihn nach dem Philosophieunterricht mit dem Versprechen „Jetzt rufen wir den Erich an” in sein Büro einlud. Dort gab es ein langes Telefongespräch mit dem im London lebenden Schriftsteller und Lyriker Erich Fried, mit dem der Pastor gut befreundet war. Peter B. durfte zuhören, wurde Fried gegenüber lobend erwähnt und fühlte sich geschmeichelt. Ein zweites Gespräch, diesmal mit dem Philosophen Ernst Bloch in Tübingen, war kürzer als das erste, aber nicht weniger bedeutsam, wurde Ernst Bloch in Bremen doch fast wie ein Prophet verehrt. „Nachdem das Telefonat beendet war, ist Abramzik aufgestanden und hat die Tür von innen abgeschlossen”, erinnert sich Peter B. “Und dabei hat er dann gesagt: Hab' keine Angst, es wird dir nichts geschehen.”
Was dann geschah? Peter B. hat bis heute einen Filmriss, der ihn quält. “Dann lag ich plötzlich nackt auf seinen Knien, ohne zu wissen, wie ich dahingekommen war.“ Es folgte das, was B. „die erste Überwältigung“ nennt. „Die zweite war nicht so schmerzhaft, aber genauso wirkungsvoll.“ Denn kaum war B. wie aus einer Trance erwacht, fing Abramzik an zu weinen, schüttelte minutenlang den Kopf und betonte ein übers andere Mal, wie glücklich er nun sei. „Und mit diesem Glück“, sagt Peter B., „hat er mich restlos eingefangen. Sein Glück war für mich, der in der eigenen Familie unter Scham und Schuldgefühlen litt, wie eine Offenbarung.“
Der Dompastor beschenkte Peter B. und sogar dessen Freundin
Was dann geschah, ist mit dem Wissen von heute nur noch schwer zu verstehen: Peter B. durfte beim Ehepaar Abramzik ein- und ausgehen. „Wenn ich die Schule geschwänzt habe, ging ich zum Haus am Markt, stieg in sein Dachzimmer hinauf, konnte lesen oder schlafen, konnte mich auch in seine große pornographische Sammlung vertiefen, bis er nach Hause kam. Nach dem Geschlechtsverkehr aß ich mit ihm und seiner Frau am Tisch.“
Das ging vielleicht ein gutes halbes Jahr, „bis ich mich in das schönste Mädchen der Welt verliebt habe“, erinnert er sich. „Das hat Abramzik sofort akzeptiert, hat nicht nur mich, auch meine Freundin mit allem Möglichen beschenkt, hat uns sogar ein Bett gekauft. Warum? Es gab noch viele andere, die wie ich bedürftig und verführbar waren. Labile Jugendliche aus problematischen Familien, zu denen ich später Kontakt aufnehmen konnte, um nicht nur mich, sondern auch Abramzik zu verstehen. Natürlich war er pädosexuell“, sagt er. „Ich denke oft an die kinderpornografischen Erzeugnisse, die er auch in meinem Beisein gekauft und konsumiert hat. Damit käme er heute ins Gefängnis. Aber damals wurde es an Erwachsene noch frei verkauft.“
Aber wieso fiel das niemandem auf? Warum sah niemand genauer hin? Wie konnte es sein, dass ein Jugendlicher bei einem Pastor aus- und einging und niemand auf die Idee kam, dass hier etwas nicht stimmte? B. vermutet, dass Irmela Abramzik gewusst haben müsse, was lief. „Als Lehrerin war sie nicht blind, nicht dumm, nicht taub.“ Und die Domgemeinde? „Die waren stolz auf ihn, die haben auch nicht hingeschaut“, sagt Peter B. „Er war ein theologisch-philosophischer Leuchtturm, der seine Strahlen bis weit über die Grenzen unserer Stadt geworfen hat.“
Und die eigene Familie? Ihr berichtete Peter B. erst fünfzehn Jahre später, nach einer langjährigen psychotherapeutischen Behandlung, von seinen Erfahrungen. „Meine Eltern haben sofort aufgehört, seine Gottesdienste zu besuchen. Meine Mutter, auf die Abramzik eine große Wirkung hatte, fühlte sich massiv betrogen, und für meinen Vater war der bis dahin hochverehrte Herr nur noch der schlechteste Mensch der Stadt. Zur Schule, zur Kirche oder zur Staatsanwaltschaft hat er sich aber nicht getraut.“
Die Domgemeinde hält den Bericht von Peter B. für glaubwürdig
Erst 2010 konnte sich der Bremer, der seit seinem Studium in Kassel als freischaffender Künstler arbeitet, mit seinen Erfahrungen an die Domgemeinde wenden. Der Gemeindevorstand verwies ihn an die Missbrauchsbeauftragte der Bremischen Kirche, Jutta Schmidt. Die hält den Bericht von Peter B. für glaubwürdig.
„Die Bremische Evangelische Kirche und die St. Petri Domgemeinde sind dankbar, dass Peter B. seine Erfahrungen offen gelegt hat“, sagt sie auf Nachfrage. „Indem er den Missbrauch zur Sprache gebracht hat, hat er einen Aufarbeitungsprozess angestoßen, der in engem Kontakt mit ihm erfolgte und deutliche Konsequenzen auch für die Prävention bewirkt hat.“ Man bedauere sehr, dass er und weitere Betroffene viel Leid durch den ehemaligen Dompastor erfahren mussten. „Wir sind seit Ende des letzten Jahres mit weiteren Betroffenen und Zeitzeugen in Kontakt gekommen, sodass nun ein nächster Schritt der Aufklärung und Aufarbeitung begonnen hat“, sagt Schmidt. Sollte es weitere Betroffene geben, würde sich die Kirche freuen, wenn diese den Kontakt zur Kirche suchten.
Peter B. Jedenfalls bereut es nicht, diesen Schritt getan zu haben. „Dort fühlte ich mich sofort als jemand anerkannt, dem etwas zugestoßen war.“ Heute beteiligt er sich an einer bundesweiten Studie zum Thema in der evangelischen Kirche beteiligt. „Dabei geht es um die strukturellen und systemischen Bedingungen in Kirche und Diakonie, die sexualisierte Gewalt befördern. Denn Missbrauchstäter wie Abramzik gibt es überall und wird es weiter geben.“