Frau Lossau, sobald für Stadtentwicklungsprojekte Bäume gefällt werden müssen, ist in Bremen Widerstand programmiert – oder?
Julia Lossau: Das stimmt total – aber nicht nur in Bremen. Viele Städter haben ein sehr inniges Verhältnis zu Bäumen oder zur Natur ganz allgemein. Dafür ist ihr Verhältnis zur Stadt eher schwierig oder ambivalent. Ein Kollege von mir hat das die Verleugnung der Stadt durch die Städter genannt.
Wo nehmen Sie das wahr?
Etwa bei Exkursionen mit Studierenden in der Stadt. Wenn ich die frage, was sie an einem bestimmten Ort realisieren oder verändern würden, kommt immer: Wir würden Bäume pflanzen! Natürlich haben Bäume in Zeiten des Klimawandels als ökologische Ressource eine immer größere Bedeutung bekommen.
Oft ist der Widerstand hoch emotional: Da wird geschrieben, Bäume würden „hingerichtet“, manche stellen Grablichter auf die Stümpfe – wie an Tatorten von Gewaltverbrechen. Woher kommt das?
Da gibt es sicher viele Gründe, auch sehr individuelle: Was geht in jemandem vor, wenn er mit so einem Baumtod konfrontiert ist? Auf der symbolischen Ebene wird das Sterben der Bäume assoziiert mit dem Sterben der Gesellschaft. Die Natur als Lebensgrundlage und der Baum als Statthalter der Natur und des Lebens, das wird in der Stadt symbolisch besonders aufgeladen.
Wie berechtigt ist das?
Fragen wir lieber: Wie sieht das Verhältnis von Stadt und Natur aus? Traditionell ist die Stadt der Ort, an dem die Natur ausgeschlossen wurde. Am Anfang der Verstädterung war die Stadt Ausdruck des Kampfs gegen die Natur, denn die war mit Gefahren verbunden. Die Stadt war der Natur abgerungen, sie wurde zum Ort der Kultur im weitesten Sinne. Natur fand auf dem Land statt.
Ein scharfer Gegensatz also.
Dieser Widerspruch verstärkte sich noch mit der Industrialisierung. Es gab aber auch vorher schon Phasen, in denen ein verklärtes Naturbild kreiert wurde. Etwa in der Aufklärung, von Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau, verbunden mit einer bestimmten Kulturkritik. Die Naturbilder waren im Grunde urbane Erfindungen. Im Lauf der Industrialisierung wurde die idealisierte Natur dann quasi in die Stadt zurückgeholt.
Wie die durchkomponierten Parks, die ja auch nicht die Natur im ursprünglichen Sinn darstellen?
Bremens Bürgerpark ist dafür ein wunderbares Beispiel. Das ist ein Landschaftsgarten, eine arkadische Natur, die in die Stadt hineingeholt wurde. In Parks spiegelt sich die urbane Vorstellung von einer ländlichen Idylle wider, die es auf dem Land gar nicht gibt.
Zurück zur Alltagspolitik: Mit dem Hinweis auf Ersatzpflanzungen lassen sich die Gemüter bei Baumfällungen meist nicht beruhigen. Welche Konsensmöglichkeiten gibt es?
Man könnte versuchen zu thematisieren, welche Zerrbilder von Stadt und Land, von Kultur und Natur geschaffen wurden: harmonische, reine Landlust und verderbliches Stadtleben. Und diese Bilder dann hinterfragen.
Trifft es zu, dass auf dem Land oder schon in dörflichen Stadtteilen weniger Aufhebens um Baumfällungen gemacht wird?
Dazu habe ich keine empirischen Zahlen, aber ich glaube das nicht. Es ist ja eher eine Frage der Bildung als des Wohnortes. Es geht um das Mindset: Fühle ich mich verantwortlich, hinterfrage ich Entscheidungen, bringe ich mich ein?
Sie haben mehrere Aufsätze über die soziale Bedeutung von Bäumen und Grünflächen in der Stadt geschrieben. Wächst diese Bedeutung mit der Größe der Stadt? Oder generell mit der Zeit?
Bäume und Grünflächen werden dann eingefordert, wenn Menschen ihren Lebensraum als unpassend, ja problematisch empfinden. Das ist unabhängig von der Größe der Stadt, und in Bremen wird es offenbar gerade von vielen so wahrgenommen. Wenn die Temperaturen steigen und Versiegelung zunimmt, dann gewinnen solche Forderungen auch politische Schlagkraft.
Im Spätsommer 2020 konnte ich mit einem Ballon über Bremen schweben, von oben wirkt die Stadt unglaublich grün. Wo stehen wir im Vergleich mit anderen deutschen Metropolen?
Beim „Grünranking“ der Städte kommt es darauf an, wie gezählt wird: Ob nur die offiziellen Grünflächen zusammengezählt werden oder ob etwa alles, was auf Satelliten-Aufnahmen irgendwie grün aussieht, mitberücksichtigt wird. Es gibt also keine absolut „grünste“ Stadt, sondern immer nur eine in Bezug auf die jeweils zugrunde gelegten Kriterien. Bremen scheint mir aber in verschiedenen Statistiken ganz gut abzuschneiden, wenn man nur die Großstädte berücksichtigt.
Alle wollen einen gut ausgebauten ÖPNV, bezahlbaren innenstadtnahen Wohnraum, genügend Parkplätze und eine Grünanlage um die Ecke. Lässt sich das in einer Stadt wie Bremen überhaupt unter einen Hut bringen?
Die SPD versucht das mit dem Leitbild der Zehn-Minuten-Stadt, der Stadt der kurzen Wege. Nutzungsmischung ist die Idee dahinter. Sie steht im Gegensatz zum funktionalistischen Denken, wie es Le Corbusier vertreten hat. Da wird die Natur in der Stadt regelrecht „zerhackt“.
Wie in der Auto-gerechten Stadt der 60er Jahre?
Genau. Bremens Hochstraße ist ein reiner Verkehrsraum, der Remberti-Kreisel ist purer Funktionalismus. Wie auch Osterholz-Tenever, das sind quasi Le Corbusiers Wohnmaschinen. Im Rahmen der Nachhaltigkeitsdebatte sind Ideen von Nutzungsmischung in die Stadtentwicklung gekommen. Aber auch damit wird man nicht alle unterschiedlichen Bedürfnisse und Ziele vereinbaren können.
Funktioniert die „Stadt der kurzen Wege“ vielleicht nur in einer Kleinstadt wie Verden, aber nicht in einer Halbmillionen-Metropole wie Bremen?
Nein, denn es ist eine dezentrale Vorstellung, sie beruht auf Quartieren. Und in denen sollen dann die meisten Bedürfnisse auch gedeckt werden. Die Idee kommt aus Paris, es kann also auch in Metropolen funktionieren. Aber natürlich kann nicht in jedem Quartier ein Krankenhaus, Theater oder Schwimmbad stehen.
Das Gespräch führte Joerg Helge Wagner.