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Mediziner geht in Ruhestand Bremer Gefängnisarzt erzählt: „Ich kenne jeden Mörder in Bremen“

Unter seinen Patienten sind Mörder und Vergewaltiger, jetzt geht Ulrich Peiffer in den Ruhestand. Ein Gespräch mit dem scheidenden Gefängnisarzt der JVA Oslebshausen über seinen Alltag hinter Gittern.
21.09.2024, 05:00 Uhr
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Bremer Gefängnisarzt erzählt: „Ich kenne jeden Mörder in Bremen“
Von Marc Hagedorn

Um an seinen Arbeitsplatz zu gelangen, muss Ulrich Peiffer durch zwölf Türen, die immer abgeschlossen sind. An seiner Hose klimpert ein Bund mit schweren Schlüsseln, fünf, sechs Stück sind es, zwei davon lang wie Kugelschreiber, ihre Bärte groß wie Zähne. Zwölf Mal muss Peiffer jeden Morgen einen Schlüssel im Schloss drehen, zwölf Mal muss er hinter sich wieder zuschließen. Ein Weg wie ein Hindernislauf. Es dauert seine Zeit, bis er sein Ziel erreicht, eine „Praxis hinter Gittern“, wie er es ausdrückt.

Ulrich Peiffer arbeitet im Gefängnis. Er ist Arzt in der JVA Oslebshausen. Zwölf Jahre lang hat er von montags bis freitags unter Mördern, Vergewaltigern und Drogendealern Dienst getan, hat ihre Rückenbeschwerden behandelt und ihnen bei Halsschmerzen und Bluthochdruck geholfen. Er hat gesehen, wie Drogen bei Insassen dafür gesorgt haben, dass sie ihre Exkremente gegessen haben. Er hat zugehört, wie sie davon berichtet haben, dass Krokodile in ihrer Zelle leben würden und die Wände sich bewegen könnten. Jetzt geht er mit 64 in den Ruhestand.

Wie muss man gebaut sein, um so einen Beruf ausüben zu können? Peiffer ist eine imposante Erscheinung, bestimmt 1,90 Meter groß. Das macht vermutlich Eindruck auf die Patienten, die Gefangene sind, was man in dieser Umgebung nie vergisst, weil sie sich immer in Begleitung mindestens eines Beamten bewegen. „Wichtiger als das Erscheinungsbild“, sagt Peiffer, „sind Gelassenheit und Lebenserfahrung.“ Er hat von beidem eine Menge. Er sagt ganz unaufgeregt Sätze wie „Ich kenne jeden Mörder in Bremen“ oder „In jedem Gefängnis gibt es Drogen, auch hier bei uns, da muss man sich nichts vormachen“.

25 Jahre lang hat Peiffer im Klinikum Bremen-Mitte gearbeitet, zehn Jahre Chirurgie, 15 Jahre Innere, als er beschließt, sich auf die Stelle als Gefängnisarzt zu bewerben. „Ich hatte festgestellt, dass ich meine Arbeit im Krankenhaus nicht mehr ordentlich machen konnte“, sagt er. Der hohe Budgetdruck, immer mehr Bürokratie, lange Schichten, meist an drei von vier Wochenenden Dienst. Die Aussicht auf eine Luftveränderung und geregelte Arbeitszeiten war zu verlockend.

Dass er robust genug für den Dienst hinter Gittern sein würde, hatte er vermutet. Dafür hatte er das Leben bis dahin schon oft genug von seiner härtesten Seite kennengelernt. „Ich habe im Krankenhaus viel Leid gesehen, Schicksalsschläge“, sagt er, „junge Menschen sind auf der Station gestorben.“ Die ersten Wochen im Gefängnis seien dann zwar aufregend gewesen. „Das ist wie beim Notarzt, der zum ersten Mal auf dem Rettungswagen mitfährt, und das Blaulicht heult.“ Aber wie beim Notarzt stellt sich auch beim Gefängnisarzt Peiffer recht bald eine gewisse Routine ein.

Dabei ist kein Tag wie der andere. Die Bremer JVA mit ihren 717 Haftplätzen platzt aus allen Nähten. Ungewöhnlich für eine Anstalt dieser Größenordnung: In Oslebshausen sitzen Männer und Frauen ein, Jugendliche, U-Häftlinge, Lebenslängliche, kleinere Fische und ganz böse Buben, ein Mix aus über 50 Nationen und ebenso vielen Sprachen.

Peiffer hat jeden der Gefangenen mindestens einmal gesehen. Bei der Eingangsuntersuchung. Manche trifft er regelmäßig wieder, andere gar nicht mehr. „Die schlimmen Fälle machen eher selten Scherereien“, kann er sagen, „Tötungen zum Beispiel geschehen meist im Affekt und in Ausnahmesituationen. Hier drinnen wollen diejenigen eher ihre Ruhe haben.“ Er kennt von allen Patienten die Geschichte. Einem Mörder gegenüber zu sitzen, sei für ihn gar keine so große Sache, sagt er, weil er ja wisse, mit wem er es zu tun habe. „Im Supermarkt weiß ich nicht, wer hinter mir an der Kasse steht.“

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Schwieriger sei der Umgang mit Sexualstraftätern und Kinderschändern. Sehr nett und umgänglich seien die meisten. Kein Wunder, sagt er, auf diese Weise seien sie schließlich auch an ihre Opfer herangekommen. Und dann sind da noch die Drogen. Sie gelangen auf allen möglichen Wegen ins Gefängnis. Die Techniken würden immer ausgeklügelter. Spice zum Beispiel, eine synthetische Droge mit verheerender Wirkung, werde mitunter auf die Zeichnungen gesprüht, die Tochter oder Sohn für den eingesperrten Papa gemalt hätten.

Rund 100 der Gefangenen sind drogenabhängig und bekommen einen Ersatzstoff, Polamidon. Einzunehmen in flüssiger Form und unter Aufsicht. Der Urin wird regelmäßig kontrolliert. Peiffer zeigt seinem Besuch, wo. Er führt über die Abteilung des Medizinischen Dienstes, zu dem 15 Kollegen gehören, eine weitere Ärztin, Rettungssanitäter, Medizinische Fachangestellte. Pflegepersonal ist schwer zu bekommen. Überhaupt fällt es nicht leicht, Stellen nachzubesetzen. Draußen zahlen die Arbeitgeber besser. Immerhin: Für Peiffer gibt es eine Nachfolgerin.

Über zwei Behandlungszimmer verfügt die Station, einen Raum belegt ein Zahnarzt mit einer halben Stelle. Nebenan befindet sich die Toilette. Als Peiffer sie betritt, geht automatisch das Licht an. Durch ein Fensterchen auf Höhe des Urinals könnte nun von draußen beobachtet werden, ob bei der Abgabe manipuliert wird.

In der medizinischen Abteilung können sie röntgen, Ultraschall machen und Blut abnehmen. „Damit decken wir schon mal eine ganze Menge ab“, sagt Peiffer. Was sie mit ihrem Team nicht leisten können, übernehmen externe Ärzte, die regelmäßig in die Anstalt kommen. Bei Notfällen oder für Operationen werden die Patienten in Krankenhäuser verlegt, immer bewacht von Gefängnispersonal.

Peiffer erzählt, wie kürzlich ein Lebenslänglicher ein neues Knie bekommen sollte. Drei Beamte pro Schicht mussten den Mann begleiten. Rund um die Uhr waren also neun Leute beschäftigt. Neun Kollegen, die im Gefängnis-Dienstplan dann fehlten. Jede medizinische Entscheidung, die Peiffer und seine Kollegin treffen, hat Folgen für die Arbeitsabläufe im Haus.

Peiffer geht mit einem guten Gefühl, obwohl er zwei Anliegen, die ihm wichtig sind, in dieser Zeit nicht zu einem erfolgreichen Ende bringen konnte. Gerne hätte er dafür gesorgt, dass Bremen das erste Hepatitis-C-freie Gefängnis Deutschlands geworden wäre. Er hatte entsprechende Pläne mit seinem Kollegen Bernd Mühlbauer, einem Pharmakologen, entwickelt. Am Ende aber hätten sich Bedenken von Entscheidern an anderer Stelle durchgesetzt. Nicht glücklich ist Peiffer auch mit der Versorgung der psychisch kranken Insassen.

Trotzdem hat er seine Arbeit so gerne gemacht, dass er den Ruhestand Ruhestand sein lassen und im Notfall einspringen würde. Bedroht gefühlt, sagt er, habe er sich in all den Jahren nie. Und auch wenn er ehemalige Patienten nach der Entlassung draußen wiedertreffe, gebe es keine Probleme. Einmal, sagt er, sei er beleidigt worden, „die meisten schauen lieber weg.“

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