„Der ist so niedlich“, sagt Ute Richter über ihren kleinen Schützling. „Da geht einem das Herz auf.“ Wenn es nur mit seinem Schnabel auch so wäre. „Am Anfang habe ich ihn zwangsernährt“, sagt die Rentnerin aus dem Peterswerder über die ersten drei Tage und Nächte mit dem jungen Haussperling. „Er wollte einfach seinen winzigen Schnabel nicht aufmachen.“ In einer zusammengerollten Socke, die dem Winzling die Bruthöhle oder das Nest ersetzen sollte und auf einer Wärmflasche lag, entwickelte sich der Vogel allmählich. Inzwischen ist der Spatz etwa zwei Wochen alt. Dass er das schafft, hätte die Tierfreundin kaum zu hoffen gewagt.

Ute Richter reicht dem kleinen Vogel zerteilte Mehlwürmer mit der Pinzette – auch das Fressen will gelernt sein.
„In 50 Jahren hat mich kein Vogel so viel beschäftigt wie dieser. Am vierten Tag habe ich angefangen, mich zu fragen, was ich falsch gemacht habe, weil er immer noch so klein war und auch nur ganz leise piepste“, sagt Ute Richter. „Dann habe ich gelesen und gelesen und vermutet, dass es ein Zaunkönig sein könnte. Weil er so klein ist und anfing, den Schwanz aufzustellen." Weil ihr Vogel nur verhalten Töne von sich gibt, weit entfernt von den 90 Dezibel lauten Rufen, die Zaunkönige von sich geben können, und weil er sich von Tag zu Tag verändert, weiß sie inzwischen: "Es ist ein Sperling. Wegen des hellen Brustgefieders wahrscheinlich ein Weibchen." Eigentlich ist ihr das Geschlecht nicht so wichtig: „Ich nenne sie alle Charly.“
Den einsamen Sperling hat ihr Enkel Jannis, der diesen Sommer in die Schule kommt, in der Nähe eines Fußballplatzes bei Bremervörde auf dem Boden gefunden. Auch wenn er von seiner Großmutter weiß, dass man junge Wildtiere nicht einfach mitnehmen soll, war klar: Der winzige nackte Vogel wäre in kürzester Zeit ausgekühlt und gestorben. So kam das Findelküken nach Bremen. „Hut ab“, sagt der Bremer Nabu-Geschäftsführer Sönke Hofmann über die Rettung des Tieres. „Das ist eine harte Nummer, das hinzukriegen. Bei noch nackten Vögeln ist das immer eine große Herausforderung. Ich habe es selbst einige Male versucht und war wenig erfolgreich.“
Ute Richter ist 74 und kennt sich aus. Seit ihrer Kindheit in Wüsting im Oldenburger Land, wo der Vater eine Geflügelzucht betrieb, kümmert sie sich um Tiere. „Das erste war ein Huhn mit Kreuzschnabel, das hat mich immer von der Schule abgeholt.“ Es folgten viele, viele andere, darunter auch Meisen, die sie als Haushaltshilfe mit zur Arbeit nahm, ein Eichhörnchen, das an den Tapeten knabberte, Bachstelzen, Nymphensittiche, Kakadus und Graupapageien. Letztere hat sie rasch weggegeben. „Die müssen fliegen können.“
Dem aktuellen Charly ging eine „bis auf die Knochen abgemagerte junge Krähe“ voraus, die Ute Richter beim Gassigehen mit ihren Pudeln Marie und Arno am Hastedter Osterdeich im Gras entdeckt hatte. Als der Jungvogel halbwegs bei Kräften war, brachte sie ihn ins Tierheim an der Hemmstraße. „Da waren schon 15 andere Krähen und eine Dohle.“ Jetzt haust das Spätzchen in dem geräumigen, von Ute Richter umgebauten Papageienkäfig. Der ist mit Sand und viel Laub ausgestattet – wie die natürliche Umgebung der geselligen und anpassungsfähigen Vögel, die als ausgewachsene Tiere vornehmlich von Samen und Körnern leben.

Das Foto im Foto zeigt das Küken, wie es aussah, als Ute Richters Enkel Jannis es fand.
Inzwischen hat die Kleine, die in einer hohlen Hand bequem Platz findet, offensichtlich Geschmack an der vitaminreichen Aufbaunahrung gefunden. „Die Pinzette habe ich extra rundgeschliffen, damit ich den Vogel nicht verletze", sagt Ute Richter. Allmählich versucht sie, die Kost umzustellen – von zerteilten Mehlwürmern, Bienen- und tiefgekühlten Fliegenmaden aus dem Anglerladen auf Samen, kleingehackte Erdnüsse, Rispen, Gräser und Kolbenhirse. Erste Flugversuche in der Wohnung sind schon erfolgreich verlaufen. Sobald der Spatz selbstständig frisst, soll er freigelassen werden. Aber das dauert noch, sagt Ute Richter. „Mindestens noch 14 Tage.“