Ausgerechnet in Bremens Erster-Klasse-Idyll, wo im Sommer Kühe weiden und sich alle Tage Fuchs und Hase gute Nacht sagen, soll etwas nicht mit rechten Dingen zu gehen? Für den Stadtjägermeister sieht es ganz danach aus. Bürgerpark und Stadtwald sind seit elf Jahren Richard Onesseits Revier. Hier kennt er jeden Baum und jeden Strauch – und jedes Reh. Deshalb ist er sicher: Hier sollten einige Tiere mehr auf den Hufen sein. „Früher gab es einen großen Überhang, den habe ich nicht allein abgebaut“, sagt der Jäger und hegt den Verdacht, dass Wilderer ihr Unwesen treiben.
Das sei ebenso wenig bewiesen wie zu widerlegen, räumt er ein. Richard Onesseit geht davon aus, dass er 15 bis 20 Stück Rehwild in seinem Revier hat. Auffällig sei, dass sich die Anzahl der Tiere seit Jahren nicht steigere. „Eher das Gegenteil ist der Fall, wir haben schon länger weniger Bestand, als zu erwarten wäre.“ Und das, obwohl eine Ricke jedes Jahr ein bis zwei Kitze zur Welt bringt. „Normalerweise vermehrt sich der Bestand jedes Jahr um 100 Prozent."
Was könnte der Grund sein, wenn es nicht Wilderer sind? Richard Onesseits Revier ist „ziemlich isoliert", wie er sagt, begrenzt von Hemmstraße, Unisee und der Stadt. "Vom Blockland her gibt es wenig Durchwanderung.“ Hinter – ungefähr – jedem dritten Baum müsste also ein Reh stehen. Oder ein Bock. Im Frühjahr wird der männliche Nachwuchs von den Alten verdrängt und muss sich ein neues Revier suchen. „In der Stadt ist es schwierig für die Jährlingsböcke, abzuwandern“, weiß Onesseit. Also müssten sich auch noch allerhand halbwüchsige Wildtiere im städtischen Grün herumdrücken.
Unfälle spielen keine große Rolle. Etwa zwei Tiere fielen jährlich dem Verkehr zum Opfer. Auch Krankheiten schließt der Jäger als Ursache der Bestandsverkleinerung aus. Die Kadaver würden von ihm und den vielen Parkbesuchern nicht lange unentdeckt bleiben. „Die Vermehrung funktioniert, die Aufzucht auch“, weiß Richard Onesseit. „Der Druck durch Prädatoren ist gering.“ Die Füchse im Bürgerpark könnten allenfalls Kitzen gefährlich werden. „Es gibt eine gewisse Mortalitätsrate, okay. Die Jagd nimmt nur mit, was praktisch übrig ist.“ Viel ist das, wie gesagt, nicht.
Richard Onesseit ist in Bremens einzigem richtigen Waldrevier unterwegs. Die übrigen 35 sind „Feldreviere, mal mit Knick, mal mit Schilfgürtel“, und übersichtlicher. Auch für Wilderer, die dort beispielsweise die Wechsel, die ausgetretenen Pfade der Tiere, leicht erkennen könnten. Aber dass Rehe und Böcke verschwinden? „Bislang kam das vor allem in Weserrand-Revieren vor. Da kann man beim Schwarzangeln gleich noch Wild fangen“, sagt der Jäger und meint es sarkastisch.
Fischwilderei ist allerdings die laut Polizeistatistik verbreitetste Variante illegaler Jagd. 2021 wurden in Bremen zwölf Fälle erfasst und elf davon aufgeklärt. Im Jahr zuvor waren es 26 Fälle, die ebenfalls nahezu alle aufgeklärt wurden, und ein Fall von Jagdwilderei: In Hemelingen war ein Reh getötet worden. Der Täter ist nicht ermittelt worden. Vergangenes Jahr hingegen gab es laut Polizei drei Fälle, in denen Wild von Unbefugten mit einer Schusswaffe erlegt worden war. In einem Fall wurde ein Verdächtiger ermittelt.
Dass Kriminelle mit Gewehren durchs Unterholz an der Finnbahn schleichen könnten, vermutet Onesseit weniger. Schüsse wären zu auffällig. Dennoch geht er von Wilderern aus. Marcus Henke, der Vizepräsident der Bremer Jäger, hält das für realistisch: „Die meisten Jäger dürften früher oder später mit der Wilderei in Berührung kommen“, hatte er im vergangenen Winter gesagt – und von eigenen Erfahrungen berichtet. Die Dunkelziffer sei hoch, schätzt er.
Wie auch Richard Onesseit. „Das Problem ist der Nachweis“, sagt er. „Wenn sich jemand eine der ziemlich zutraulichen Stockenten greift, was nicht so selten vorkommt, kann ich keine Rucksackkontrolle machen.“ Das Wildern einer Ente könne bis zu 500 Euro kosten, sagt Onesseit. Deutlich mehr bei höheren Wirbeltieren wie Rehen.
Richard Onesseit nimmt an, dass Rehwild in seinem Revier mit Schlingen getötet wird, aber das ist schwer nachzuweisen. Die gefährlichen Drahtschlaufen sind auch für Menschen kaum zu erkennen und mit der gewilderten Beute schnell wieder entfernt. Rehwild, das sich darin verfängt, stranguliert sich beim Versuch, freizukommen. „Das dauert und ist ein qualvoller Tod“, sagt der Jäger.
Onesseit ist keiner, der auf die Tränendrüse drückt. Aber in diesem Zusammenhang kommt er auf das Bambi-Syndrom zu sprechen: „Das Schlimme an der Wilderei ist, dass sie keine Schonzeit kennt. Und keine Gnade.“ Wenn ein Muttertier mit seinem Jungen im Wald unterwegs sei, könne sich die vorausgehende Ricke in einer der Schlingen verfangen und sich im Todeskampf erdrosseln. „Übrig bleibt dann das hilflose Kitz.“