Mindestens eine der jüngsten drei Wolfssichtungen im Bremer Stadtgebiet hat sich bestätigt. Die Jägerschaft hält es für eine Frage der Zeit, dass Wölfe Menschen angreifen. Wie sehen Sie das, Frau Wenzel?
Sibylle Wenzel: Es gibt überhaupt keine Indizien dafür, dass Wölfe gefährlich für den Menschen sind, zumindest nicht, wenn sie keine Tollwut haben. Ein einzelner Wolf, der durch ein Stadtgebiet streift, und ich denke, das wird ein Jungwolf gewesen sein, der sich verirrt hat, den würde ich als nahezu ungefährlich für den Menschen einstufen, wenn man ihn nicht in die Enge treibt.
Pläne der Bundesumweltministerin, sogenannte anlassunabhängige Abschüsse von Wölfen eher zu erlauben, sehen Sie kritisch. Derzeit ist der Wolf naturschutzrechtlich geschützt – bis auf Ausnahmen. Was bedeutet es, das Wildtier unter tierschutzrechtlichen Aspekten zu betrachten, wie Sie es anregen?
Zum einen ist es so, dass der Paragraf 1 Tierschutzgesetz sagt, dass niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden, Schäden zufügen darf, das beinhaltet auch das Töten eines Tieres. Das Weidetier und der Wolf haben letztlich die gleiche Daseinsberechtigung, und deswegen muss man einfach gut gegeneinander abwägen, welche Maßnahmen geeignet sind, um das eine Tier vor dem anderen zu schützen.
Wir berichten immer häufiger über Nutztierrisse in der Stadt oder ihrer unmittelbaren Nähe durch den Wolf, aber auch durch Hunde. Wie können Schafe, Ziegen, Rinder und Pferde Ihrer Meinung nach geschützt werden?
Gerade gewerbliche Tierhalter sind rechtlich verpflichtet, ihre Tiere so weit möglich vor Beutegreifern zu schützen, und zwar ist das in Paragraf 3 der Tierschutznutztierhaltungsverordnung geregelt. Natürlich gibt es den Weidetierschutz mit geeigneten Zäunen, aber die nächtliche Aufstallung ist aus meiner Sicht auch ein probates Mittel, um Tiere zu schützen. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass vermehrt Weidehütten gebaut werden dürfen, die dann eben nachts verschlossen werden. Das würde ich als den effektivsten Weideschutz ansehen, weil auch diese wolfsabweisenden Zäune für Wild nicht ganz ungefährlich sind.

Landestierschutzbeauftragte Sibylle Wenzel.
Damit hängen ziemliche Kosten zusammen. Wie ließe sich noch mehr Weideschutz finanzieren?
Ich denke, das müssen wir gesamtgesellschaftlich entscheiden. Zunächst hat grundsätzlich der Halter für seine Tiere Sorge zu tragen. Wenn ich mein Geflügel vor Fuchs, Marder oder Habicht schützen will, dann muss ich das auch auf meine Kosten machen. Mobile Hühnerhaltungen haben seit vielen Jahren dieses Problem mit Beutegreifern. Manche setzen Gänse ein, manche Esel oder Ziegen, die mitlaufen, andere schützen ihre Hühner durch Netze – und eben durch die nächtliche Einstallung. Genauso müsste man das eben von jedem anderen Tierhalter erwarten. Aber ich sehe durchaus das Problem, dass Zäune und Weideunterstände in diesem Ausmaß zu bauen, von einer Einzelperson nicht mehr geleistet werden kann. Vielleicht muss man komplett umdenken, indem man eher stadtnahe Flächen als Weiden nutzt, die besser zu schützen sind, und das als Gesamtkonzept mit der finanziellen Unterstützung und sonstigen Schutzmaßnahmen betrachtet. Wer seine Tiere auf der Weide hält, bekommt eine Prämie, und er bekommt noch mehr Prämie, wenn er sie auch nachts aufstallt.
Wie ist die aktuelle Lage?
Wenn ich mit dem Zug durchs Land fahre, dann sehe ich noch ganz viele Tiere, die nicht wolfssicher eingezäunt sind. Wobei ich nicht sagen kann, ob die nicht nachts aufgestallt werden. Das sollte das Hauptziel sein, Tiere nachts zu schützen.
Sie schlagen vor, die Bejagung von Reh- und Rotwild als Nahrungsquelle des Wolfes einzuschränken. Der Bauernverband hält das für „schwierig“ und rätselt, was Sie mit der „Zusammenstellung von wehrhaften Herden“ meinen…
Man weiß, dass 95 Prozent der Nahrung des Wolfes aus Wildtieren bestehen. Ich denke, das ist eine ganz einfache Abwägung, die der Wolf vornimmt: Wenn er eine große Auswahl an Rehen hat und Schafe gut geschützt sind, wird er sich vielleicht für die Rehe entscheiden. Mit wehrhaften Herden meine ich, dass erwachsene, starke Rinder gegebenenfalls mit Jungtieren zusammen auf die Weide kommen und nicht nur Jungtiere. Das hilft natürlich nicht, wenn Wölfe, wie bei Cuxhaven, gelernt haben, eine Herde in den Graben zu treiben.
Die Universitäten Bremen und Gießen haben ein Projekt zum Thema intelligenter Weidezaun, der Wölfe fernhalten soll, ohne Weidetiere zu verschrecken. Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten ein?
Das Forschungsvorhaben finde ich sehr spannend. Ich weiß, dass dort mit Licht und mit Geräuschen getestet wird. Ich kann mir schon vorstellen, dass zusätzlich zu dem Stromreiz die Abschreckung größer ist. Ich denke, dass sich in den nächsten Jahren ganz neue Möglichkeiten ergeben werden, vielleicht kann man auch mobile, wolfssichere Weidezelte erwerben, die man ohne großen Aufwand umsetzen und nachts schließen kann. Mit dem Wolf zu leben, bedeutet deutlich mehr Aufwand, als ohne ihn zu leben.