Ameneh Aleshloo Someah, 41

Ameneh Aleshloo Someah
Wenn man hier wählen kann, ist das ein Zeichen, dass man ein Teil dieses Landes ist, das ist ein schönes Gefühl“, sagt Ameneh Aleshloo Someah. „Ich kann über die Zukunft dieses Landes mitentscheiden.“ Die 41-Jährige ist im Iran aufgewachsen und kam 2011 als Asylsuchende mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter nach Deutschland. Inzwischen lebt sie mit ihrer Familie seit sieben Jahren in Bremen.
Vor zwei Jahren ließ sie sich einbürgern. An diesem Sonntag konnte sie zum ersten Mal in Deutschland wählen. „Hier entscheiden die Leute und nicht der Staat, wer regiert“, sagt Aleshloo Someah. „Hier wird meine Stimme gezählt.“ Anders ist die Lage im Iran: „Dort weiß man schon vor der Wahl, wer gewinnt, das ist das Schmerzhafte.“ Weil sie die doppelte Staatsbürgerschaft hat, hätte die 41-Jährige im Sommer auch im Iran wählen können. Aber sie stimmte nicht ab, so wie zuletzt viele Wahlberechtigte im Iran: „Sie zählen dort meine Stimme nicht, warum sollte ich dann wählen?“
Zufrieden mit der bisherigen Regierung
Aleshloo Someah könnte sich als Regierungsbündnis erneut eine Große Koalition vorstellen. Mit der Politik der bisherigen Bundesregierung sei sie ganz zufrieden gewesen, sagt sie. Von der neuen Regierung wünscht sie sich vor allem mehr Anerkennung und Gleichstellung: „Man hält uns oft noch für Ausländer. Ich möchte, dass gesehen wird, dass wir alle gleich sind, und dass man uns respektiert.“
Die gebürtige Iranerin hat sich mit einigem Einsatz auf ihre Einbürgerung vorbereitet: „Ich habe Deutsch- und Politikkurse gemacht und mir Arbeit gesucht“, erzählt sie. Inzwischen arbeitet sie als Tagesmutter in der Kinderbetreuung beim Familienzentrum Mobile in Hemelingen. Im Iran nähte sie als Schneiderin Hochzeitskleider und festliche Mode. In Bremen führt sie das Nähen eher nebenbei von zu Hause aus fort. Und ihr Haupt-Arbeitsplatz, das Mobile, fungiert an diesem Sonntag als Wahllokal: Dort hat auch sie ihren Stimmzettel abgegeben.
Inzwischen ist Deutschland ihre zweite Heimat: „Manchmal habe ich sogar das Gefühl, das ist hier schon mehr meine Heimat als der Iran“, sagt sie. Drei ihrer vier Kinder sind in Bremen, ein Sohn lebt im Iran. „Meine Kinder sind hier, sie werden hier bleiben und hier heiraten.“ Bremen sei eine schöne, eine ruhige Stadt, sagt Aleshloo Someah, die selbst in der iranischen Metropole Schiraz aufwuchs. „Im Sommer war ich vier Wochen im Iran, da habe ich Bremen richtig vermisst.“
Meret Göhring, 19

Meret Göhring
Hinter einem grauen Sichtschutz verborgen, im Wahllokal des Bezirks 382-01, gibt Meret Göhring zum ersten Mal ihre Stimme für die Bundestagswahl ab. „Das Kreuz bestimmt viel für die nächsten vier Jahre, gerade in Hinblick auf unser Klima“, sagt sie wenige Minuten später. Die Freiwilligendienstleistende erhofft sich einen Regierungswechsel, weg von der Großen Koalition, weg von der Politik der vergangenen 16 Jahre.
Sonst, so befürchtet die 19-Jährige, könnten klimarettende Beschlüsse zu spät kommen. „Es gibt die Klima-Uhr. Inzwischen stehen da noch sechs Jahre drauf“, sagt Meret Göhring. Sechs Jahre, bis die Menschheit so viel Kohlenstoffdioxid ausgestoßen hat, dass ein Temperaturanstieg um 1,5 Grad unausweichlich ist. Sie wäre zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. „Ich habe keine Ahnung, ob und wie es dann weitergehen kann. Ich hätte schon gerne eine Zukunftsperspektive“.
Klimaschutz und Soziales
Soziale Gerechtigkeit, Pflegenotstand und der Einsatz für benachteiligte Bevölkerungsgruppen: Diese Themen beschäftigen sie neben dem Klimaschutz besonders. Bis Anfang dieses Jahres übernahm sie einige Monate Schichten in einem Altenheim, um für ihren Auszug zu sparen. Das habe ihre politische Entscheidung stark geprägt, sagt Meret Göhring. Sie hat der Partei ihre Stimme gegeben, die ihrer Vorstellung einer sozialeren Politik am nächsten kommt.
Politisch engagiert hat sich die gebürtige Bremerin auch selbst: Bei der Neugründung eines Jugendbeirates in der Neustadt, in der Schülervertretung der Oberschule am Leibnizplatz sowie als Mitinitiatorin einer Demonstration für mehr Bildungsgerechtigkeit. Mehr Optionen für stadtteilpolitische Teilhabe, demokratischere Schulen: Das wünscht sich Göhring für eine bessere politische Partizipation von jungen Menschen.
Auf die 18-Uhr-Prognose reagierte die Erstwählerin am Abend mit gemischten Gefühlen. „Ich finde es gut, dass die CDU auf einem historischen Tief ist. Aber bei der Linken hätte ich mir mehr erhofft.“
Werner Voss, 93

Werner Voss
Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner in seinem Seniorenheim stimmen per Briefwahl ab. Werner Voss weiß das, denn er hat ihre Briefe persönlich zur Postfiliale gebracht: „Ich habe ja die roten Umschläge gesehen“, sagt er und schmunzelt. Die Tour zur Post ist Teil seiner täglichen Routine. Morgens um zehn holt er die Briefe der Bewohner bei der Rezeption ab und kutschiert sie zum Kasten.
Werner Voss ist 93 und fährt Scooter. Und mit seinem Scooter ist er am Sonntag auch vorgefahren beim Wahllokal in der Grundschule Oberneuland. Für ihn selbst kommt Briefwahl nicht infrage, er macht sein Kreuz vor Ort. „Das ist die höchste Ehre, die höchste Auszeichnung, die wir haben, dass man frei wählen darf“, sagt er. Als Jugendlicher hat er noch Zeiten miterlebt, in denen es keine freien Wahlen gab: die Hitler-Zeit. Doch als er selbst volljährig war und wählen durfte, war das Dritte Reich untergegangen – 1945 war Voss 17 Jahre alt.
Finanzpolitik für den Wohlstand
Wahlen haben für ihn hohen Stellenwert. „Früher bin ich immer mit feinem Zwirn wählen gegangen, mit Anzug und Krawatte“, erzählt der ehemalige Kaffee-Kaufmann. An diesem Sonntag war er etwas legerer unterwegs, mit Pullover, Weste und Tweet-Mütze. Doch das Abstimmen vor Ort ließ er sich nicht nehmen. Nach den ersten Hochrechnungen am Abend zeigt er sich "sehr zufrieden" mit dem Zuwachs der FDP und sagt: "Die CDU hat sehr lange regiert, ein Regierungswechsel wäre jetzt gar nicht schlecht." Der 93-Jährige betont vor allem: „Ich akzeptiere alles, man sollte hinterher nicht rummäkeln, dann ist die Sache gelaufen. Das ist eben eine freie Wahl.“
Wichtig ist für ihn die Finanzpolitik: „Nach diesen ganzen Ausgaben in der Pandemie muss erst mal wieder Geld in die Kasse kommen“, sagt er. „Wir müssen sparsam wirtschaften, denn mit Schulden werden wir keinen Wohlstand schaffen.“ Das ist ihm auch mit Blick auf seine Familie wichtig: Werner Voss hat einen Sohn, zwei Enkel und einen Urenkel. Sparsam gewirtschaftet habe er auch selbst viele Jahre, erzählt er: „Als wir uns damals ein Wochenendhaus an der Wümme gebaut haben, haben viele sich gefragt, wie wir das schaffen“, erinnert sich der Bremer. Aber dafür habe die Familie zuvor jahrelang auf Reisen verzichtet.
Klimawandel dagegen ist für ihn kein großes Thema: „Ja, die Welt verändert sich, aber sie hat sich immer verändert“, sagt er. „Ich verstehe, dass die Jüngeren demonstrieren.“ Ihr Protest werde aber nicht viel bewirken, glaubt der 93-Jährige.
Dennis Gruchmann, 28 Jahre

Dennis Gruchmann
Spieltag, Wahltag. Die erste Tageshälfte – eine 0:3-Niederlage für Werder – war für Dennis Gruchmann schon mal keine gute. Jetzt, um kurz nach fünf am Nachmittag, sitzt er auf einer Bierbank an einem Tisch draußen vor der Kneipe „Eisen“ und wartet unruhig auf den zweiten Teil des Tages. „Das ist die erste Wahl für mich, bei der ich echt nervös bin“, sagt er. Weil viel auf dem Spiel stehe. Weil vier Jahre eine lange Zeit sind, wenn es zum Beispiel um den Klimawandel geht, für ihn eines der entscheidenden Themen dieser Bundestagswahl.
Was dem jungen Mann sonst noch wichtig ist, zeigt er gern: Er trägt eine schwarze Sportjacke mit „Antifascista“-Logo, dazu an der Kappe einen Button in Regenbogenfarben, einen anderen mit „Refugees welcome“. Das T-Shirt „Bremen Nord gegen Nazis“ ist erst später zu sehen, als er, ein Bier vor sich, dem Fernseher in der Kneipe gegenübersitzt, auf dem gerade die erste Prognose eingelaufen ist. Ihm ist heiß geworden, aber nicht vor Freude.
Zeigen, was einem wichtig ist
Für Dennis Gruchmann, 28, gebürtiger Bremer, ist die Kneipe im Viertel seit zehn Jahren sein zweites Wohnzimmer. Hier kennt man ihn, hier kennt er die Leute. Er möge es nicht, allein zu sein, sagt er, deshalb will er auch heute hier sein, wenn die Prognosen und Hochrechnungen kommen. „Und ich weiß: Alle, die heute hier sein werden, ticken gleich.“ Seine Verbundenheit zum Lokal hat auch viel mit Fußball zu tun. Seit sechs Jahren gibt es den Fanclub #twerder, die Choreografie zum Fünfjährigen, die am 14. März 2020 – ausgerechnet – im Stadion hätte laufen sollen, liegt gut verstaut auf dem Dachboden. Wenn alles klappt, kann er am nächsten Freitag zum ersten Mal seit Pandemiebeginn wieder ins Stadion gehen. Das ist die Hoffnung für den nächsten Spieltag.
Um 17.57 Uhr sagt Gruchmann: „Ich hab ein komisches Gefühl im Magen.“ Als die erste Prognose kommt, ist es erst ganz still im "Eisen". Dann wird geflucht. Seine letzte Hoffnung für diesen Wahltag, sagt er, liege jetzt bei den Briefwahlstimmen.