Herr Diener, vor wenigen Tagen hat das Bundeskriminalamt die Kriminalstatistik 2019 präsentiert. Danach wurden bundesweit mehr als 4000 Kinder geschlagen und misshandelt, in mehr als 12.000 Fällen wurde wegen kinderpornografischer Delikte ermittelt. 112 Kinder wurden getötet. Wie sehen Ihre Zahlen aus?
Rolf Diener: Die Zahlen des Jugendamtes unterscheiden sich grundsätzlich von den Zahlen der Polizeibehörden. Wir erfassen alle Fälle von akuter oder latenter Kindeswohlgefährdung. Das zu differenzieren, ist oft eine schwierige Entscheidung. Wo unmittelbar kindeswohlgefährdende Straftaten im Raum stehen, werden die Täter selbstverständlich angezeigt und die Kinder aus den Familien genommen.
Erklärt das Anzeigeverhalten die niedrigen Bremer Zahlen? Laut Innenressort gab es im vergangenen Jahr 45 Fälle von Kindesmisshandlung. Das ist die Spitze eines Eisbergs?Dadurch, dass wir alle Fälle von möglicher oder tatsächlicher Kindeswohlgefährdung erfassen, sind die Zahlen des Jugendamtes wesentlich höher. Unsere Aufgabe ist es, den Familien schnell praktisch zu helfen. Wir beurteilen Fälle nach dem Grad der Kindeswohlgefährdung.
Es gibt Kinder, die körperlich misshandelt werden, sie müssen wir anders begleiten als Fälle, in denen es um unterschiedliche Schweregrade von Vernachlässigung geht oder um eine indirekte Gefährdung des Kindeswohls – beispielsweise wenn Kinder Zeuge von tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Erwachsenen werden. Eine große Zahl gefährdeter Kinder lebt in psychisch schwierigen Situationen oder erlebt Gewalt zwischen den Erwachsenen. Auch damit können Kinder in ihrer Entwicklung gefährdet sein.
Das ist in der Tat erschreckend, und jedes Kind ist eines zu viel, keine Frage. In Bremen ist glücklicherweise seit vielen Jahren kein solcher Fall zu beklagen. In den letzten Jahren hat sich in den Jugendämtern und insbesondere auch in Bremen viel getan. Bei uns gehen schneller alle Alarmglocken an, die Abläufe haben sich grundlegend verändert. Aber letztlich kann man nicht hinter alle Wohnungstüren gucken. Wie bei anderen Dramen kann so etwas in vollkommen unauffälligen Familien wie aus dem Nichts passieren. Wo es Anzeichen gibt, können wir aktiv werden.
Woher bekommt das Jugendamt Informationen über Kinder in Not?Über Schulen und Kitas, über Angehörige und Nachbarn. Etwa die Hälfte der Familien, über die uns etwas zu Ohren kommt, haben wir schon in unserem System. Wenn wir eine Meldung bekommen, machen wir uns vor Ort einen Eindruck und leiten daraus eine Gefährdungseinschätzung ab, besprechen also im Team, ob und inwiefern das Wohl des Kindes gefährdet ist, und entscheiden dann, was zu tun ist. Das wird eng mit den Sorgeberechtigten rückgekoppelt.
In einem großen Anteil der Fälle wollen die Eltern nichts Böses, sondern sind heillos überfordert und für Hilfe dankbar. Das geschieht oft lange bevor es beispielsweise zu auch strafrechtlich relevanten Konstellationen kommt. In manchen Fällen müssen die Kinder in Obhut genommen werden, manchmal auch sofort. Auch das geschieht häufig im Einvernehmen mit den Eltern.
Was geschieht, wenn Ihre Behörde benachrichtigt wird, weil ein Kind in der Schule oder in der Kita auffällt?Zunächst sprechen die Kitas und dann auch wir im Jugendamt in der Regel die Eltern an, schließlich weist nicht jeder blaue Fleck auf eine Kindesmisshandlung hin, und nicht jeder Verdacht erweist sich als richtig. Das macht es schwierig, insbesondere bei dem Verdacht auf sexuellem Missbrauch. Bei Fällen sexualisierter Gewalt läuft bei uns ein spezielles Verfahren an, wir binden unter anderem Fachleute von Schattenriss, dem Jungenbüro oder dem Kinderschutzbund ein. Solche Fälle sind oft sehr heikel, man muss sehr sensibel vorgehen.
Gehen Sie davon aus, dass das Jugendamt momentan weniger oder zu wenig mitbekommt, weil Schulen und Kitas Kinder nur teilweise zu Gesicht bekommen? Ende April berichtete der Kinderschutzbund, dass die Gefährdungsmeldungen wegen Kindesmisshandlung bei den Jugendämtern teilweise deutlich gesunken seien.Es gibt dazu noch keine verlässlichen Zahlen. Es scheint weniger Gefährdungsmeldungen zu geben und auch die Zahl der Inobhutnahmen ist leicht gesunken, allerdings sind diese Zahlen grundsätzlich Schwankungen unterworfen. Man muss mit Interpretationen also sehr vorsichtig sein. Aber es gibt offenbar auch bei uns eine Tendenz, die die Beobachtungen des Kinderschutzbunds bestätigen.
Wir machen uns schon Sorgen und uns ist bewusst, dass eine Lücke entstanden ist und es den einen oder anderen Fall geben kann, auf den wir unter anderen Umständen schon aufmerksam geworden wären. Aber wir tun alles, um diese Lücke zu schließen. Wir haben in Bremen auch schon früh darauf gedrängt, dass in der Kita-Notbetreuung auch frühzeitig Kinder berücksichtigt werden, für die mit der Familie ein sogenanntes Schutzkonzept vereinbart worden ist und/oder deren Familien Hilfen zur Erziehung in Anspruch nehmen.
Was mir in der Corona-Krise auch Sorgen bereitet, ist, wie wir unsere Dienste und Angebote aufrechterhalten, wie wir mit den Sorgen unserer Mitarbeiter umgehen und beispielsweise die Betreuung ihrer Kinder organisieren können. In der Summe sind wir bislang gut arbeitsfähig, auch wenn das nicht immer einfach ist und den Teams einiges abverlangt. Auch Corona-bedingte Inobhutnahmen sind für uns eine Herausforderung.
Corona-bedingt? Inwiefern?Wenn Eltern aufgrund einer Corona-Erkrankung ins Krankenhaus kommen und kein eigenes soziales Hilfsnetz haben, um die Versorgung der Kinder sicherzustellen, kann es zu solchen vorübergehenden Inobhutnahmen kommen. Oder auch wenn eine Alleinerziehende zur Entbindung ins Krankenhaus muss und niemand da ist, der ihr anderes Kind versorgen kann – dann bringen wir die Kinder solange unter, bis die Familie wieder komplett ist. Das kann dann auch bedeuten, dass wir möglicherweise Corona-infizierte Kinder unterbringen müssen.
Die Mitarbeiter des Jugendamts machen aber auch weiterhin Besuche in Familien?Wenn es nötig ist, in Krisen- und Notsituationen, ist das weiterhin selbstverständlich. Hygiene- und Abstandsregelungen werden so weit wie möglich eingehalten. Das Ansteckungsrisiko ist im Zweifelsfall geringer zu bewerten als die Kindeswohlgefährdung. Natürlich sehen die Casemanager zu, in der ambulanten Betreuung das Wesentliche am Telefon oder per Email zu erledigen oder sie treffen die Familien außerhalb der Wohnungen, wo das möglich und angebracht ist.
Klar ist, dass der Stress in den Familien durch die Corona-Krise steigen kann. Manche haben finanzielle Sorgen, weil sie in Kurzarbeit sind. Andere leben in beengten Wohnverhältnissen oder arbeiten im Homeoffice und betreuen gleichzeitig ihre Kinder. Selbst in gut aufgestellten Familien kann das zu einer großen Herausforderung werden. Die einen schweißt das zusammen, andere geraten in Überforderungssituationen. Wir werden nicht müde, unsere Hilfe anzubieten und beispielsweise die Telefonnummern unserer Erziehungsberatung zu verbreiten.
Vermutlich wäre schon viel geholfen, wenn Eltern am Rande des Nervenzusammenbruchs sich frühzeitig melden würden, selbst wenn sie vor der Corona-Krise nie Hilfe gebraucht haben.Auf jeden Fall. Wir verstehen uns vor allem als Beratungs- und Unterstützungsinstitution für Familien mit Kindern. Es ist kein Eingeständnis des eigenen Versagens, wenn man Rat in Erziehungsfragen braucht, schon gar nicht in der derzeitigen Lage. Ich kann Eltern nur ermuntern, sich an uns zu wenden. Auf Wunsch beraten wir am Telefon oder online – auch anonym.
Das Gespräch führte Silke Hellwig.Rolf Diener ist seit 2013 Leiter des Jugendamts Bremen. Diener ist Sozialarbeiter und war schon vorher als Sozialzentrumsleiter im Amt für soziale Dienste tätig.
Kriminalstatistik für Bremen
Die Kriminalstatistik für das Land Bremen hat im vergangenen Jahr laut Innenressort 45 Fälle von Kindesmisshandlung erfasst (2018: 40). Zwei Fälle von fahrlässiger Tötung wurden registriert (2018: einer). „Bei den Fallzahlen sind in den Deliktsfeldern sexueller Missbrauch von Kindern und Kinderpornografie jeweils starke Anstiege zu verzeichnen von 68 auf 112 Taten sowie von 49 auf 105 Taten“, so eine Sprecherin des Innenressorts.
Laut Polizeipräsident Lutz Müller erkläre sich dies durch eine konzertierte Aktion des Bundeskriminalamts in Zusammenhang mit internationalen Internet-Providern. Die Fälle wurden zur Weiterverfolgung an die Bundesländer übergeben und schlagen sich deshalb in den Zahlen nieder.
Weitere Informationen
Die Bremer Erziehungsberatungsstellen sind von Montag bis Freitag, 10 bis 14 Uhr, telefonisch erreichbar. Weitere Informationen: www.amtfuersozialedienste.bremen.de/familien/erziehungsberatung-12306
Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche: 116 111, anonym und kostenlos, montags bis sonnabends von 14 bis 20 sowie montags, mittwochs und donnerstags von 10 bis 12 Uhr.
Nummer gegen Kummer für Eltern: 0800 / 111 01 50, ebenfalls anonym und kostenlos, montags bis freitags von 9 bis 17 sowie
dienstags und donnerstags von 17 bis 19 Uhr.