Es ist ein schmaler Grat: Jeder hat das Recht, politische Entscheidungen zu hinterfragen. Die Demokratie lädt dazu sein, kritische Geister tun ihr gut. Es gibt wohl keine Politikerin, keinen Minister und keine Abgeordneten, die ernsthaft bestreiten, dass politische Entscheidungen getroffen werden, die sich als falsch, riskant oder voreilig erweisen, und dass in der Politik mitunter auch gelogen wird. Menschen machen Fehler, ob fahrlässig oder aus Versehen.
Dennoch wächst das Vertrauen in die Bundes- und die Landesregierungen, nach derzeitigem Erkenntnisstand berechtigterweise. Die Lage der Nation fordert aber auch zum Widerspruch heraus. Dass nicht jede Anordnung einleuchtet, manches willkürlich oder widersprüchlich erscheint, scheint auch einer gewissen Hektik geschuldet, mit der Politik selten konfrontiert ist. Regierungen haben darin keine Übung. Die Pandemie ist bislang ohne Beispiel und zwingt zu schnellem Handeln. Die Verantwortlichen werden nicht müde zu betonen, dass sie „auf Sicht“ entscheiden müssen.
Skepsis und Kritik sind das eine, Verschwörungstheorien etwas ganz anderes. Dass Menschen protestieren, weil sie die Einschränkungen, die ihnen auferlegt werden, nicht mehr für ungewisse Zeit zu erdulden bereit sind, ist ihr in der Verfassung verbrieftes Recht. Wenn Menschen andere davon zu überzeugen suchen, dass hinter der Verbreitung des Virus ein geheimer, niederträchtiger Plan steht und die Bevölkerung hintergangen und für dumm verkauft wird, ist das nichts als grober Unfug. Man kann einander nicht nur mit Viren anstecken, sondern auch mit kruden Ideen. Insbesondere verunsicherte Menschen lassen sich schnell einen Floh ins Ohr setzen. Gerade in Krisenzeiten steige die Bereitschaft, an geheime Machenschaften zu glauben, stellen die Sozialpsychologen Jan-Willem van Prooijen und Karen M. Douglas fest.
Die Varianten der Legendenbildung sind so umfangreich wie schillernd: Die Pandemie sei eine Erfindung, heißt es. Die Eliten machten sich die Folgen für ihre Zwecke zunutze. In Großbritannien wurden im April, wie die BBC berichtete, 5G-Handymasten angezündet. Motiv: Die Mobilfunkstrahlung soll die Virusverbreitung beschleunigen. Andere verbreiten, dunkle Mächte wollten „die Schwingungsfrequenz der Menschheit“ senken. Derzeit sehr populär: Bill Gates wolle mit seinem Geld die Weltgesundheitsorganisation beeinflussen und die Weltherrschaft an sich reißen. Die Menschheit solle zwangsweise geimpft werden. Um die Überbevölkerung zu stoppen, werde der Impfstoff mit Sterilisationsmitteln versetzt. Vom „Corona-Schwindel“ ist die Rede und einer „Corona-Diktatur“.
Wie ein Steppenbrand
Dass sich solche steilen, durch nichts als eine selbst grob zusammengehauene Logik belegten Thesen wie ein Steppenbrand verbreiten, wird durch drei Phänomene der Neuzeit begünstigt: In sozialen Netzwerken multiplizieren sich Informationen ungeahnt schnell, ungeachtet ihres Wahrheitsgehalts, ohne jede Plausibilitätsprüfung, ohne jegliches Korrektiv. Obendrein spaltet sich die öffentliche Meinung in mehr und mehr Fragen und radikalisiert sich an ihren Rändern. Klimaretter gegen Klimaleugner, Tierschützer gegen Tierschänder, EU-Befürworter gegen EU-Feinde.
Ein maßvoller, integrativer Diskurs wird häufig von extremen Positionen überschattet. Diskussionspartner werden zu Kontrahenten, das Internet zieht Giftspritzen, Provokateure und Geltungssüchtige magisch an. Es schafft eine eigene Wirklichkeit, alternative Wahrheiten, eine Welt in 4D. „Wenn jedes Youtube-Video genauso vertrauenswürdig ist wie eine Tageszeitung mit festangestellten Redakteuren, dann verabschieden wir uns davon, als Gesellschaft eine kommunikative Übereinkunft über Realität zu erzeugen“, sagte der Psychologe Roland Imhoff der „Deutschen Welle“. Er forscht über Verschwörungstheorien.
Das Phänomen Wutbürger schließlich macht sichtbar, was sich sonst auf fragwürdigen Internet-Plattformen Bahn bricht. Zornige Personen kommen zusammen, um sich aufzulehnen. Wogegen, das ist nicht immer auf einen Nenner zu bringen, meist sind es „das System“ oder „die da oben“. Der Zorn ist oft alles, was diese Menschen eint, ihre Motive und ihre Selbstverortung sind höchst unterschiedlich, „das wird man doch wohl noch sagen dürfen“ ihr Mantra. Doch was man wohl noch sagen darf, bewahrheitet sich nicht dadurch, dass man es ausspricht, auf Pappen malt und in die Luft hält.
Was also tun gegen Menschen mit üppiger Vorstellungskraft und ausgeprägtem Mitteilungsdrang? Am besten gar nicht erst ignorieren, auf Norddeutsch: da rein, da raus.