Wenn wir Medienleute auf der Suche nach Inhalten sind, die den Tag zwischen all den Gruselnachrichten aus aller Welt etwas herzerfreulicher gestalten, dann gilt: Kinder und Tiere gehen immer. Erstere sollen heute mal außen vor bleiben, meine eigenen, als bewährte Mitwirkende dieser Kolumne häufig gefordert, eingeschlossen. Die haben sich, nach Schuljahresabschluss und Zeugnisvergabe im 0421-Land, eine Atempause verdient. Also Tiere. Da die Daseinsberechtigung des Internets zu einem nicht unerheblichen Teil auf lustigen Katzenvideos fußt, fallen die ebenfalls aus. Das wäre zu einfach. Versuchen wir es stattdessen also mit: Waschbären.
Die verschaffen in den unendlichen Weiten des World Wide Web zurzeit Kassel einige Berühmtheit. Weil im Netz ein Video herum (in digitaler Fachsprache: viral) geht, das zeigt, wie eine Bande Waschbären auf Nahrungssuche dort nächtens ein Wohngebiet unsicher macht. Dazu muss man wissen, dass die nordhessische, nun ja, Metropole mit 100 Tieren pro Hektar als Europas Waschbärenhauptstadt gilt. Ein Umstand, der darauf zurückzuführen ist, dass dort – Danke, liebes Internet! – der Geflügelzüchter Rolf Haag im April 1934 je zwei überaus vermehrungsfreudige Fähen und Rüden durch den Leiter des Forstamtes Vöhl, Wilhelm Freiherr Sittich von Berlepsch, zur Bereicherung der heimischen Fauna auswildern ließ. Nun, 90 Jahre später, haben sie im nahen Kassel den Waschbärensalat. Und dazu so viel Aufmerksamkeit, dass man in Bremen und umzu ein wenig eifersüchtelnd darauf blicken könnte.
Aber nur fast. Denn selbst dann, wenn ich Kassel abseits der documenta allen Ruhm gönne: Das ist nichts, was in Bremen nicht auch schon zu erleben gewesen wäre. Und zwar in meinem Garten. Gut, eigentlich war es der meines Elternhauses, aber grundlegende gesellschaftliche Übereinkünfte wie Besitz sollten nicht überbewertet werden. Wie es der Zufall will, war es Sommer und in Deutschland fand gerade eine Fußball-EM statt. Im Juni 1988 also hatte eine Art Privatzoo mit angeschlossener Gärtnerei (nicht ausgeschlossen, dass es tatsächlich umgekehrt war) den Ausbruch einer trächtigen Waschbären-Fähe zu beklagen. Und die beschloss, zur Niederkunft ein Eckchen hinter einer Bretterwand im hintersten Gerümpelwinkel unseres Gartens im Bremer Süden zu beziehen.
Das Spektakel begann damit, dass am Abend des verlorenen EM-Halbfinales gegen die Niederlande plötzlich ein Wesen, das ich – trotz Bio-Leistungskurs – zunächst für ein Stinktier hielt, vor der Terrassentür stand und durch die Scheibe ins Wohnzimmer lugte. Und es endete damit, dass wenig später ein Tierarzt anrückte, der die gegenüber Einfangversuchen recht unkooperative Waschbärendame mittels Betäubungspfeil aus einem Blasrohr sedierte. Das alles war so unerhört spektakulär, dass sogar unsere geschätzte Qualitätszeitung darüber mit Bild und kurzem Text berichtete. Denn wer hätte es nicht geahnt: Tiere gehen ja immer.
Tagebucheintrag: Sollte jemand meinen, die Formulierung mit der Überbewertung von Besitz hätte ich aus dem aus dem cineastisch-sozialkritischen Meisterwerk „Fight Club“ geklaut? Stimmt!