Da ist stets dieser eine Moment, in dem alles innehält. Das ganze Getriebe von Politikerinnen und Politikern, Journalisten, Technikern, Analysten, Beratern und Hauspersonal steht abrupt still, wie von einem Bannstrahl getroffen. Dieser Moment tritt am Wahltag jedes Mal um Punkt sechs ein, wenn die erste Prognose über die Bildschirme flimmert. Und so ist es auch an diesem Sonntag, bei der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft.
Für wenige Minuten fokussiert sich im Parlamentsgebäude am Marktplatz die ganze Aufmerksamkeit auf die Balken mit den Prozentzahlen. Alle Erfahrung sagt, dass die Zahlen über den Abend und bis zur ersten Hochrechnung mehr oder weniger Bestand haben. Also wird geguckt, voller Spannung, und dann geht das auch schon los mit den Mutmaßungen. Wer mit wem? Was ist mit den Grünen, den an Stimmen größten Verlierern der Wahl? Gleich setzt wieder ein Grundrauschen ein, allgemeines Gemurmel.
Und dann, tja, kommt Andreas Bovenschulte, der alte und neue Bürgermeister. Er hat die Wahl gewonnen, kein Zweifel. Und natürlich wird an dem Mann in der Bürgerschaft jetzt gezerrt und gezogen. Wer von den Rundfunkanstalten kriegt ihn zuerst und für wie lange? Ein ziemlicher Zirkus, doch "Bovi", wie er von vielen genannt wird – hat trotzdem die Ruhe weg und posiert zwischendurch für Selfies.
Phillipp reckt den Daumen hoch, sein Foto ist im Kasten, genauer: im Handy. "Entschuldigen Sie", hatte der Elfjährige höflich gefragt, "können wir mal?" Der Bürgermeister, gerade von der ARD interviewt und nun auf dem Weg zu Phoenix, beugte sich zu dem Jungen hinunter, und heraus kommt ein Bild, das die beiden Kopf an Kopf in bester Laune zeigt. So ein Motiv hat wohl keiner bekommen im Medien-Tohuwabohu, das die Bürgerschaft in einen Belagerungszustand versetzt.
Für Ingo Charton ist es die dritte Bürgerschaftswahl, die er im Parlamentsgebäude organisiert. Er versteht sich als Mädchen für alles, "wenn man das heute noch sagen darf". Der Kontakt mit den Rundfunkanstalten, die bei Wahlen immer gewaltig Personal und Material auffahren, Absprachen mit dem Ordnungsamt und der Verkehrsbehörde, Räume verteilen, für ein kleines Catering sorgen – Charton ist seit Monaten beschäftigt, und wirkt so, wie er es sagt: "Macht Spaß."
Wahlabend in der Bürgerschaft: Mehr als 500 Akkreditierte
Mehr als 500 Menschen sind akkreditiert, rund 200 davon allein von der ARD, erzählt der Mann aus dem Pressestab der Bürgerschaft. Sie haben ihre großen und kleinen Studios aufgebaut, den Plenarsaal mit Kisten und Kästen vollgestopft, die Sitzungsräume zu Produktionsorten umfunktioniert. Und sie werden Spuren hinterlassen, das bleibt gar nicht aus. "Am Mittwoch sind alle wieder weg, dann gehen zuerst die Maler durch, danach die Raumpfleger", sagt Charton, "Ende Mai wird alles wieder picobello aussehen."
Als Bovenschulte um kurz nach halb sieben eintrifft, nachdem er sich zunächst auf der Wahlparty seiner Partei feiern ließ, ist Maike Schaefer schon da, die Spitzenkandidatin der Grünen. Beide stehen am Pult der ARD und werden zum Wahlausgang befragt. Frank Imhoff, Spitzenkandidat der CDU, ist zugeschaltet, er steuert erst später die Bürgerschaft an. Bovenschulte, Imhoff und Schaefer sagen, was zu sagen ist.
Die Grünen-Frau wird früh aus dem Studio bugsiert, da ist die Übertragung noch gar nicht zu Ende. Sie berät sich hinter den Kulissen mit ihrer Pressesprecherin und wird währenddessen vom ZDF bedrängt, das unbedingt und sofort eine Stellungnahme von ihr haben möchte. "Nun haben Sie doch ein wenig Geduld, ich komme gleich", bittet sie die Leute vom Zweiten. Dann sagt die Senatorin vor laufender Kamera noch einmal, was zu sagen ist. Zum Beispiel, dass es für ihren Wahlkampf keinen Rückenwind aus Berlin gegeben habe. Und dass es zu früh sei, über persönliche Konsequenzen nachzudenken.
Bovenschulte macht es wie Schaefer. Er lässt sich von seinem engsten Kreis zwischendurch wiederholt neu briefen. Irgendwo ist ja immer eine Ecke, in die man sich kurz verdrücken kann. Der Bürgermeister und seine künftige Ehefrau Kerstin Krüger, die nicht von seiner Seite weicht, bekommt Ratschläge für die Auftritte bei den Medien. Es werden Sprachregelungen getroffen, damit nichts schiefgeht. Sicher ist sicher, auch wenn Bovenschulte durch und durch Profi ist und ihm selbst im stärksten Stress kaum ein Lapsus passiert.
Von Kristina Vogt, der Spitzenkandidatin der Linken, ist bisher nichts zu sehen. Oder sie steckt irgendwo in dem Durcheinander und wird nicht entdeckt. Später ist sie jedenfalls da. Imhoff schneit so gegen sieben in die Bürgerschaft, man muss das so sagen, denn es ist ein einziges großes Hallo, das der CDU-Mann verbreitet. "Moin", ruft er mit lauter Stimme in die Menge, "wie geht's?" Die gute Laune in Person, so wie schon bei jedem, wirklich jedem Auftritt während des Wahlkampfs. Spät darf es für ihn an diesem Abend nicht werden: "Ich muss morgen früh um fünf mit dem Auto nach Berlin." Eine Viertelstunde vorher noch ein Fernsehinterview bei ihm zu Hause in Strom. Hartes Programm, aber was ein Landwirt ist, und das ist Imhoff, der hat keine Mühe, aus dem Bett zu kommen.
"Wir sind alle heiß wie Frittenfett", hatte der ARD-Produktionsleiter gesagt, als er seine Crew auf die anstehenden Sendungen einstimmte. So heiß nicht, aber mollig warm wird's wegen der Scheinwerfer schon. Vielen steht der Schweiß auf der Stirn: Journalisten, die vor den Kameras fragen, Politiker, die antworten. Ein ums andere Mal muss tief in den Schminktopf gegriffen werden. Abpudern, die Gesichter sind unnatürlich glatt. Menschen, die Maske tragen. Wie im Theater. Ein großes Theater. Und nun ist es schon wieder vorbei.