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Weniger ist mehr Zwei Füße und 500 Paar Schuhe

Wer kennt das nicht, wenn der Papierkram zu viel wird oder die Schränke überfüllt sind? Manchmal endet das im Chaos. Doch es gibt Hilfe.
15.11.2023, 05:00 Uhr
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Zwei Füße und 500 Paar Schuhe
Von Jürgen Hinrichs

Da ist die Frau mit ihren 500 Paar Schuhen. Schwierige Kundin, sehr schwierig. Sie kann nicht ablassen von ihrer Sammlung, will jedes einzelne Paar behalten und findet immer auch eine Begründung dafür. Nichts zu machen, jedenfalls im ersten Anlauf nicht. Dabei hat die Frau um Hilfe gebeten und ist auch bereit, dafür zu bezahlen. Sie will den Berg von Schuhen abtragen, nur dass ihr die Kraft fehlt, es wirklich zu tun. Zeit vergeht, bis das endlich gelingt. Sie ist glücklich danach, zufrieden mit sich selbst, stolz sogar: Geschafft! Keine 500 Paar mehr, viel weniger, auch wenn noch genügend übrig geblieben sind.

Ein Beispiel aus der täglichen Praxis von Tanja Kliemann. Sie unterstützt Menschen, die im Chaos versinken oder sich zumindest so fühlen. Denen zum Beispiel der Papierkram über den Kopf gewachsen ist, der ganze Behördenwust, die Rechnungen, Mahnungen und Erinnerungen. Irgendwer will ja immer was, und wenn man nicht gleich dahinter her ist, kommt schon das Nächste und Nächste und Nächste. Eine Flut, nicht zu stoppen. Und wie auch, wo anfangen? Kliemann weiß wo, sie kennt sich aus – eins zum anderen und eins nach dem anderen. Ganz ruhig, sagt sie, das geht schon.

„Heute Morgen war‘s eine Küche“, erzählt die 54-Jährige. Die Kundin hält es nicht mehr aus, dass die Schränke proppenvoll sind – massenhaft Tassen, Tiegel und Teller, Kolonnen von Kaffeebechern, Gewürze jedweder Art und Beschaffenheit, Besteck für Bataillone, Pfannen, Töpfe und Tupperdosen. „Wir haben vier Schränke geschafft und sind noch längst nicht am Ende“, sagt Kliemann.

Die Unternehmerin, gelernt hat sie Immobilienkauffrau, zitiert aus einer Statistik, „habe ich irgendwo gelesen“, und glaubt zu wissen, dass die Menschen in Europa heute durchschnittlich 10.000 Dinge besitzen, vor 100 Jahren seien es lediglich 300 gewesen. „Der Standard“ hat sich jüngst den Spaß gemacht, das zu überprüfen. Die Wiener Zeitung wandte sich an die Gralshüter aller Zahlenwerke, an die Experten vom Statistischen Bundesamt in Wiesbaden. Die 10.000 Dinge seien eine „Falschmeldung“, die sich hartnäckig halte, antwortete die Behörde: „Wir haben dazu keine Daten vorliegen und hatten es auch nie.“

"Die Menschen werden erdrückt"

Eine Mär also, aber ganz falsch deshalb nicht. Es gibt viel Armut in der Welt, aber eben auch Überfluss, und der, sagt Kliemann, kann zum Problem werden: „Die Menschen werden erdrückt davon.“ Jedes einzelne Ding besitze seine eigene Energie, viel und immer mehr davon zwänge ein, nehme die Luft zum Atmen. Wenn aufgeräumt wurde, weggeworfen und weggegeben, um mit dem Rest die neue Ordnung zu schaffen, sei das eine Befreiung, „man sieht das an den Gesichtern“. Tiefe Dankbarkeit, unter Kliemanns Anleitung einen Weg aus dem Chaos gefunden zu haben. Zufriedenheit auch bei ihr selbst: „Ich liebe meine Arbeit“, sagt die Bremerin, „sie macht mich glücklich.“

Ihre Firma heißt „Umordnung“, sie betreibt sie allein. Der Name ist Programm: Nicht reingehen in den Haushalt und Tabula rasa machen, sondern behutsam ergründen, wie die Lage ist, sondieren, was geht und was nicht. Ordnung ist ein weiter Begriff, jeder Mensch hat eine andere Vorstellung davon. Wegwerfen kann ein Weg sein, aber bei Weitem nicht der einzige. „Ich bin keine Entrümplerin“, betont Kliemann. Sie will auch niemand sein, der den Kunden die eigene Struktur überstülpt: „Ich frage nur, entscheiden müssen sie selbst.“

Oft wird Kliemann gerufen, wenn es gilt, einen Nachlass zu ordnen. Der Partner stirbt, oder die Partnerin, und wer übrig bleibt, muss plötzlich Dokumente sichten und beurteilen, die er oder sie vorher nie zu Gesicht bekommen hatte, weil es zwischen ihnen bei den Formalitäten des Lebens eine Arbeitsteilung gab. Oder der Mensch allein: Er will im Alter vielleicht Ballast abwerfen, um es den Nachkommen möglichst einfach zu machen. „Für 60 Prozent meiner Kunden ist das der Punkt, sie wollen ihren Nachlass regeln“, berichtet Kliemann.

Es geht ans Eingemachte

Doch wie ist sie eigentlich auf die Idee gekommen, so eine Arbeit anzubieten? Da geht‘s ja ans Eingemachte, man rückt sehr nahe an die Menschen heran, lernt sie auf eine Weise kennen, die viel verrät, auch so manches Geheimnis. Es ist Scham im Spiel, die Scham, ein stückweit gescheitert zu sein. Warum also diese Arbeit?

„Ich war selbst in Not damals, allerdings ganz anders. Ich habe zu viel gearbeitet, konnte den Druck nicht mehr ertragen, ein Burn-out.“ Zwei Jahre Pause, Therapie, Runterkommen. Aber irgendwann musste es wieder losgehen, Geld verdienen, ging nicht anders. Aber womit? Kliemann überlegte: Wer bin ich, wo liegen meine Stärken und Vorlieben? Und dann kam sie drauf: „Ich habe schon als Kind geliebt, den Dingen eine Ordnung zu geben.“ Bei den Barbiepuppen die Schuhe sortiert, streng nach Farbe. Oder stundenlang Knöpfe hin- und hergewendet, welcher zu welchem passt und in die entsprechende Schachtel gehört. Solche Sachen. „Das war wie Meditation für mich.“

Als sie mit ihrer neuen Arbeit anfing, hatte sie dreimal mit Menschen zu tun, die ihre Wohnungen und Häuser derart vollstopfen, dass Schneisen geschlagen werden müssen, um durchzukommen. Sie versuchte zu helfen, stieß aber an ihre Grenzen: „Das waren Messies, sie waren krank, und ich bin keine Psychologin.“

In solchen Fällen geht es wahrscheinlich nicht anders – da muss rigoros weggeworfen werden, sofern die Klienten das irgendwann zulassen. Anders bei Kliemann, sie legt extrem viel Wert auf Nachhaltigkeit: „Ich schaue mir auch die hundertste Jacke ganz genau an und überlege, ob sie noch zu gebrauchen ist.“ Geradewegs in der Tonne lande lediglich der Müll. Das andere nehme sie mit und biete es in Gebrauchtwarenkaufhäusern an, bei der Inneren Mission, in Auktionshäusern oder bei Tauschbörsen auf Recyclinghöfen. „Ich habe auch Kontakt zu einem Mann aus Afrika, der nimmt gerne Eiche rustikal, sammelt die Möbel und schickt sie im Container in seine Heimat.“ Das Zuviel kommt dorthin, wo zu wenig ist: Umordnung.

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