Ellenerbrok-Schevemoor. Mit der „Lebenswege & Lebenswirklichkeit“ betitelten Ausstellung über den Verleger Peter Suhrkamp begibt sich die Kulturambulanz am Klinikum Bremen-Ost auf die Spuren des bedeutenden Verlegers. Die Wanderausstellung wird, wie berichtet, an Orten gezeigt, die in Suhrkamps Leben eine wichtige Rolle gespielt haben: „Aber nur wenige wissen, dass dazu auch das ehemalige St.-Jürgen-Asyl und heutige Klinikum Bremen-Ost gehörte“, sagt Achim Tischer, der Leiter der Kulturambulanz. Mit dem Vortrag „Suhrkamp, der ,Große Krieg‘ und die Bremer Psychiatrie“ beleuchtete Kulturwissenschaftlerin Maria Hermes-Wladarsch in der Galerie im Park Suhrkamps Zeit in der Bremer Einrichtung. Dafür untersuchte sie die vollständig erhalten gebliebene Krankenakte Suhrkamps.
„Alles ist hier schreiend, aber so lautlos schreiend“: So beschreibt Peter Suhrkamp seinen Aufenthalt im St. Jürgen-Asyl. Von Oktober 1918 bis Januar 1919 war er Patient der im Bremer Volksmund schlicht „Ellen“ genannten Einrichtung – die im Osterholzer Ortsteil Ellenerbrok-Schevemoor liegt. Zuvor hatte sich der 1891 in Kirchhatten (zwischen Bremen und Oldenburg) geborene Suhrkamp mit 23 freiwillig für den Kriegsdienst gemeldet. Vorwiegend als Offizier an der Westfront eingesetzt, musste er Weihnachten 1917 erleben, wie ein guter Freund nach schwerer Verwundung starb. Suhrkamp brach zusammen und kam 1918 in ein Feldlazarett in Frankreich, wo er acht Wochen blieb, bevor er in ein Lazarett nach Celle gebracht wurde, dann nach Bad Pyrmont und anschließend im Juli 1918 in ein Offiziers-Erholungsheim in Königstein im Taunus. Von dort erfolgte die Verlegung in das St.-Jürgen-Asyl.
Für die Ärzte ist Peter Suhrkamp ein Patient wie jeder andere, seine Diagnose war schnell gefunden: Hysterie. „Hysterie wurde den Soldaten gerne angedichtet“, erklärt Maria Hermes-Wladarsch, „denn wäre der Krieg schuld an ihrem Zustand gewesen, hätten vielleicht Zahlungsforderungen seitens der Soldaten entstehen können.“ Zudem war die damals diagnostizierte Krankheit „Hysterie“ ein rein weibliches Phänomen und diente dazu, die Soldaten zu verweichlichen. Dementsprechend wurde der Krieg als Ursache für den Zusammenbruch und die Depression Suhrkamps nicht ernsthaft in Betracht gezogen: Stattdessen wurden eine „traurige Stimmung und morgendlicher Brechreiz“ bemerkt, und seine unglückliche Ehe als Grund seiner Leiden schnell gefunden.
Peter Suhrkamp hingegen fand erst in der Psychiatrie die Ruhe, um sich mit dem Krieg auseinanderzusetzen. Seine Erlebnisse dort kamen ihm immer stärker ins Bewusstsein, die Erschießung eines englischen Soldaten wird für ihn zum Schlüsselerlebnis: „In der Krankenakte wird der Mord an dem Engländer lediglich ein einziges Mal erwähnt“, erzählt die Kulturwissenschaftlerin, „seine Gewalterfahrung im Ersten Weltkrieg wurde in der Psychiatrie überhaupt nicht reflektiert.“
Zwar behinderten die Ärzte die Auseinandersetzung mit dem Krieg nicht, ebenso wenig förderten sie jedoch solch einen Disput. Auch die ebenfalls gestellte Diagnose „Psychopathie mit epileptischen Stufungen“ fußte nicht auf den Erlebnissen im Krieg, sondern, neben der unglücklichen Ehe, auch auf einer erblichen Belastung: „Der Vater war geizig, die Tante war anormal“.
Peter Suhrkamp erlebte die Psychiatrie als „Irrenhaus“. Zur Behandlung erhielt er nicht nur eine Vielzahl verschiedener Medikamente wie Morphium oder Luminal, ein Mittel gegen Epilepsie, sondern auch Therapiemethoden zur Beruhigung: So wurden dem Patienten bei 35 bis 37 Grad Wassertemperatur mehrere Tage ununterbrochen Bäder verabreicht. Der Erfolg dieser überwiegend auf körperliche Symptome ausgerichteten Behandlung war überschaubar: Im Januar 1919 bekam Peter Suhrkamp beim Hören von Militärmusik umgehend Magenkrämpfe. Kurz darauf erfolgte die Entlassung Suhrkamps aus dem St.-Jürgen-Asyl. Er wurde als „dauernd militärunfähig“ eingestuft.