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Drogenszene am Hauptbahnhof "Crack hat alles verändert"

Zwei Streetworker der Drogenhilfe berichten, warum das Bahnhofsgebiet für Drogenabhängige so häufig der Lebensmittelpunkt ist. Sie wünschen sich an dieser Stelle weniger Ordnungs- und mehr Gesundheitspolitik.
13.11.2022, 01:05 Uhr
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Von Timo Thalmann

Für Felix Moh ist die Sache klar. Das Gebiet rund um den Hauptbahnhof ist für die Klientel des Streetworkers "einfach der attraktivste Aufenthaltsraum". An diesem Verkehrsknotenpunkt gebe es schließlich alles, was sie bräuchten: Viel Betrieb, um in der Masse abzutauchen, Möglichkeiten der Geld- und Drogenbeschaffung und nicht zuletzt ein Hilfesystem, zu dem auch Moh und seine Kollegin Anna Tibert zählen.

Ihr Arbeitgeber, die gemeinnützige Comeback GmbH, sitzt unweit des Bahnhofs im Siemens-Hochhaus. Dort bietet die Drogenhilfe eine feste Anlaufstelle für die Süchtigen mit vielfältigen, sehr niedrigschwelligen praktischen Angeboten für ihren schwierigen Alltag auf der Straße. Hier gibt es saubere Spritzen, ärztliche Hilfe, eine Dusche, Telefon, eine Postanschrift, einen Joghurt, Getränke oder auch Schlaf- und Aufenthaltsmöglichkeiten am Tag. So soll der Weg zur Beratung, zur Vermittlung einer Unterkunft und ganz langfristig zum Ausstieg aus dem Drogenkonsum geebnet werden.

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Tibert und Moh sind als Streetworker quasi im Außendienst von Comeback tätig. Sie machen ihre täglichen Runden um den Bahnhof und pflegen den Kontakt zu den Abhängigen. "Wir stehen am Anfang des sehr langen Wegs von der momentanen Verelendung auf der Straße bis zu einem stabilen Entzug", beschreibt es Moh. Tibert sieht es schon als ersten Erfolg, wenn die Abhängigen überhaupt den Weg zu ihren Hilfsangeboten im Siemens-Hochhaus finden und durch die Tür kommen. "Bei vielen Kontakten geht es zunächst um scheinbar banale Probleme wie ein fehlendes Paar Schuhe oder eine Hose", sagt sie. Zugleich illustriert das den Grad des Elends, der inzwischen in dieser der Drogenszene herrscht.

"Crack hat seit ein paar Jahren alles verändert", sagt Tibert. Die mit Natron und Wasser eingekochten Kokainkügelchen lassen sich in der Pfeife rauchen und versetzen in einen schnellen, billigen, aber auch sehr kurzen Rausch. "Vielleicht zehn Minuten nach einem Zug", schätzt Moh. Das psychische Abhängigkeitspotenzial von Crack sei extrem hoch. Nach dem Rausch ist vor dem Rausch. Das Ergebnis: Die Süchtigen sind eigentlich durchgehend mit Beschaffung und Konsum beschäftigt, oft ohne Schlaf über Tage und Nächte.

Alles Übrige werde darüber vernachlässigt: Essen, Körperpflege oder soziale Beziehungen. Cracksucht bedeute durchgehend hohen Stress. "Wir haben Klienten, die haben eigentlich eine Wohnung und damit einen privaten Rückzugsraum, aber sie schaffen es nicht vom Hauptbahnhof in ihren Stadtteil, weil, kaum zu Hause, sofort wieder der Druck zur nächsten Crackpfeife einsetzt", erzählt Moh. So bleiben sie am Hauptbahnhof hängen und die Spirale der Verelendung beginnt. "Das ist eindeutig mehr und schlimmer geworden als vor drei oder vier Jahren", urteilt Tibert.

Die Aktivitäten von Polizei und Ordnungsdienst empfinden die beiden Streetworker dabei als wenig hilfreich. "Das ist immer nur kurzfristige Verdrängung", meint Moh. Sie hätten es sogar schwerer, gezielt jemanden wiederzufinden, wenn die Ordnungsbehörden die bekannten Aufenthaltsplätze regelmäßig aufscheuchen. "Wir wissen, dass unsere Klientel häufig nur als störende Masse und Problem wahrgenommen wird. Wir sehen sie gerade deswegen zuallererst als Menschen, die das Recht auf einen Platz haben", sagt Tibert. Keiner der Süchtigen habe seine Situation bewusst gewählt, betont die Psychologin. Nahezu jeder von ihnen habe ein unbewältigtes Trauma im Gepäck, vielfach gebe es psychische Erkrankungen.

"Diese Menschen sind irgendwie durchs Rost gefallen", findet Moh. Und zwar zumeist lange bevor sie das Areal rund um den Hauptbahnhof zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht hätten. Es geht um fehlende Therapieplätze, verpasste Schulabschlüsse und kaputte Familien. So würden Weichen gestellt, die dann nicht zwangsläufig, aber eben häufig am Bahnhof enden. "Will man das ändern, müssen diese Ursachen angegangen und viele Hilfsangebote massiv ausgeweitet werden."

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Einen vollständig drogenfreien Bahnhof halten die zwei Streetworker für unrealistisch, schon allein, weil es für Crack – anders als bei Heroin – bislang keine medizinische Ersatzdroge gibt. Das begrenzt die Möglichkeiten der Drogenhilfe. Zum Ausbau der Hilfen inklusive größerer Toleranzräume, in denen ein sicherer Drogenkonsum möglich ist, sehen sie daher kaum Alternativen, um wenigstens die absolute Verelendung zu stoppen.

Darin liegt laut Tibert auch nicht das Risiko, mehr Drogensüchtige nach Bremen und ins Bahnhofsgebiet zu locken. "Wenn das so wäre, müsste die Lage in Hannover oder Hamburg problematischer sein, denn dort gibt es – anders als in Bremen – große Druckräume und mehr Hilfsangebote." Doch das Gegenteil sei der Fall. "Die Situation hier ist aktuell geprägt von eher wenig Hilfe und viel Repression durch Ordnungspolitik." Das werde den Menschen nicht gerecht – weder den Süchtigen noch allen anderen.

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