Ein Mann steht neben einem Fahrradständer beim Tivoli-Hochhaus am Hauptbahnhof. Unauffällig, dunkel gekleidet, aber dennoch fällt er auf: Leicht vornübergebeugt zittert er am ganzen Körper, trotz der Hitze. Freiwillig wirkt diese Bewegung nicht. Was schüttelt ihn? Eine Hand hat er leicht erhoben. Will er etwas sagen? Wird er gleich umfallen? Kann er sich überhaupt noch aufrichten? Man weiß es nicht.
Diese Beobachtungen sind es, die bei vielen Zweifel aufkommen lassen, ob alles richtig läuft am Bremer Hauptbahnhof. Oder auch: Ob es nicht ganz anders laufen sollte. Der Vorstoß für ein Alkoholverbot ist vor nicht langer Zeit gescheitert, derzeit hat die Polizei Drogen besonders in den Fokus genommen. Jüngst ist die Fußgängerbrücke gesperrt worden, um die Crack-Szene von dort zu vertreiben. Crack und Verdrängung, das sind zwei Stichwörter, die entscheidend sind für eine Beschreibung dessen, was gerade los ist rund um den Hauptbahnhof.
Die Szene habe sich stark verändert, berichtet Streetworker Felix Moh von der Drogenhilfe Comeback. Noch vor zwei Jahren habe er die meisten seiner Klientinnen und Klienten beim Namen gekannt, nun tauchten ständig neue Leute auf. Migration und Flucht brächten sie aus dem europäischen Ausland und von weiter her in die Stadt, andere kommen aus dem Umland.
Für Crack gibt es keinen Ersatzstoff
Auch die große Verfügbarkeit von Crack, eine Art rauchbares Kokain, sei ein Problem, unter anderem, weil es den Zugang zu den Süchtigen erschwere. Da der Crack-Rausch sehr kurz ist, spüren sie viel schneller den drohenden Entzug. Zeit, sich für ein Beratungsgespräch hinzusetzen, bleibe da nicht. Auch andere bewährte Hilfsstrategien liefen ins Leere: „Früher war der Königsweg der Drogenhilfe die Substitution“, sagt Moh. Für Crack jedoch gibt es keinen Ersatzstoff. Die Menschen rutschen ab ins körperliche und psychische Elend, und das schneller und stärker als durch andere Drogen. Teilweise konsumierten sie tagelang ohne Schlaf und ohne Essen.
Im Café des Kontakt- und Beratungszentrums Tivoli, wo früher auf Höhe der Hochstraße die „Stammgäste“ saßen und redeten, ist es leerer geworden. Nicht nur wegen Corona, sagt Moh. Wer vollkommen am Ende sei, wolle sich nur noch hinlegen. Und manchen sind selbst 1,50 Euro für ein Mittagessen zu viel.
Das Bedürfnis nach Ruhe kennt auch Oschin Noravian von seinen Klientinnen und Klienten. Er arbeitet im Szenetreff der Inneren Mission an der Ostseite des Bahnhofs. Groß ist die mit Gittern abgesperrte Fläche, halb unter der Fußgängerbrücke versteckt und direkt neben der Straße, nicht. Betonstufen, ein paar Holzbänke, Blumenkübel an der vergitterten Wand: Ein Ort der Ruhe soll das sein, auch wenn der Verkehr pausenlos vorbeirauscht. „Armut und Sucht sind Vollzeitjobs. Man muss sich kümmern, um die Pulle, die Spritze, das Essen“, sagt Noravian. Wer zum Szenetreff kommt, kann und muss das kurz vergessen. „Hier wird nicht konsumiert, hier wird nicht gehandelt.“ Aber eben auch nicht gestritten, geklaut oder bedroht. Der Szenealltag ist oft genug von Gewalt, Misstrauen und Angst geprägt.

Nach der letzten großen Polizeiaktion ist die Fußgängerbrücke an der Ostseite des Hauptbahnhofs gesperrt worden. Der Szenetreff direkt daneben bleibt aber zugänglich.
Was die beiden Streetworker eint, ist ihre Parteilichkeit. Die Situation rund um den Hauptbahnhof sei „ein Bild dafür, dass wir Probleme haben in unserer Gesellschaft“, sagt Moh. Menschen dabei zu helfen, besser klarzukommen, an ihrer Seite zu stehen, das sei seine Aufgabe. Und Noravian sagt: „Am Ende des Tages sind wir auch Teil der Szene.“ Akzeptanz, Respekt und Toleranz seien entscheidend. Mit Repression, Vertreibung und der Kriminalisierung der Drogensucht hingegen komme man nicht weiter, findet Moh.
Rund um den Bahnhof erlebe er eine „zunehmend aufgeheiztere Stimmung.“ Verteilte die Polizei früher Platzverweise mit einer 24-Stunden-Gültigkeit, seien es heute 14-Tages-Verweise. Drogenkonsumierende würden so aus dem direkten Bahnhofsumfeld verdrängt und suchten sich neue Treffpunkte, etwa im Nelson-Mandela-Park oder in den Wallanlagen. Auch auf dem Spielplatz einer Schule in der Nähe seien neulich Spritzen gefunden worden: „Das passiert, wenn man die Leute von ihren Orten vertreibt“, sagt Moh.
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Geduldete Orte, an denen die Szene Szene sein darf, sollen Abhilfe schaffen. Mit dem Treff sei ein erster Schritt in diese Richtung gemacht worden, findet Katharina Kähler, Bereichsleiterin der Wohnungslosenhilfe der Inneren Mission. Leicht sei der Start nicht gewesen: Vandalismus, Brandstiftung, eine nach vier Wochen zerstörte Toilette, weil die Leute versuchten, in der Kabine ihre Drogen zu verstecken. Ohne Betreuung, das war die Lehre, funktioniert es nicht. Zeitweise musste der Treff coronabedingt außerdem ganz geschlossen werden. Inzwischen nutzen am Tag bis zu 130 Menschen das Angebot. Mehr als ein Anfang sei die Einrichtung aber dennoch nicht, sagt Kähler. "Mir fehlt das Weiterdenken. Ein Ort für eine Personengruppe reicht nicht."
Eine Anlaufstelle für alle, im Winter dreimal in der Woche, im Sommer einmal im Monat, ist der Kältebus der Johanniter. Für viele sei der Bahnhofsvorplatz Wohn- und Arbeitszimmer in einem, sagt Ehrenamtliche Karin Stelljes: Dort lebten sie, und dort verdienten sie mit Betteln und Flaschensammeln etwas Geld. Sie kann verstehen, dass Polizei und Stadt den Bereich gern ordentlicher hätten. „Aber warum geben sie den Menschen dann keine Alternative?“ Eine Begegnungsstätte fehle, und zwar in der Nähe. „Man muss direkt dorthin gehen, wo die Menschen sind.“
Wenn sie während der Ausgabe bei den Wartenden steht, erfährt sie vieles. Angefangen habe das, weil sie ans Abstandhalten erinnerte, wegen Corona. Aber dann fragten die Leute sie: Hast du mal ein Pflaster, kannst du dir das mal angucken? Oder sie erzählten, was ihnen widerfahren war, von Trennungen, Unfällen und Drogensucht. Ärger erlebt Stelljes selten. „Bitte und danke, das ist das, was wir erwarten. Und das hören wir in der Regel auch.“ Nur manchmal sei eine Ansage nötig, wenn etwa eine junge Freiwillige nicht respektiert werde. Sorgen macht ihr eher, dass die Zahl der Bedürftigen immer größer wird: Als sie beim Kältebus angefangen habe, seien 30, 40 Leute gekommen. Mittlerweile seien es an die 100.