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100 Ermittlungsverfahren Bremens Kripo ist personell am Limit

Die Ermittlungen gegen Drogenhändler in Bremen laufen überaus erfolgreich. Doch zugleich bringen die sogenannten Encrochat-Fälle die Kripo an ihre Kapazitätsgrenzen.
26.06.2021, 06:00 Uhr
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Bremens Kripo ist personell am Limit
Von Ralf Michel

Dass es der französischen Polizei im vergangenen Jahr gelungen war, den bis dahin als abhörsicher geltenden Messengerdienst "Encrochat" zu knacken und monatelang unbemerkt die Kommunikation von Drogenhändlern, Waffenschiebern und Erpressern mitzulesen, gilt in den Ermittlerkreisen als "Jahrhundertcoup". Seither rollt eine wahre Verhaftungswelle durch Europa, die längst auch Bremen erreicht hat: Vier Gerichtsverfahren gegen mutmaßliche Drogendealer laufen bereits vor dem Landgericht, weitere Anklagen sind in Arbeit. Und auch das ist nur die Spitze eines Eisberges. Frank Passade, Sprecher der Staatsanwaltschaft, spricht von mindestens 100 Ermittlungsverfahren seiner Behörde. "Und wahrscheinlich werden es noch mehr, die genaue Zahl können wir im Moment noch gar nicht abschätzen."

Eine vorher unvorstellbare Entwicklung, sagt Michael Hauk, Geschäftsführer des Bundes deutscher Kriminalbeamter (BDK) in Bremen. "Genau so etwas hat man als Kriminalist immer gehofft. Wir wussten ja, dass wir auch in Bremen eine entsprechende Qualität im Bereich Organisierte Kriminalität haben." All dies sei nun durch das Hacken der Encrochat-Verschlüsselung beweiskräftig offengelegt worden.

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Dies sei natürlich zu begrüßen, betont Hauk. Andererseits bedeuteten die neuen Erkenntnisse aber auch einen gewaltigen weiteren Arbeitsaufwand für die Kripo. "Den kann ich nur bewältigen, indem ich da gezielt Personal reinsteuere." Mit den entsprechenden Folgen für andere Aufgaben: "Wenn man diese Kriminalität konsequent mit aller Kraft bekämpfen will, müssen wir andere Bereiche vernachlässigen. Und das nicht nur über Monate, sondern über mehrere Jahre."

Dadurch aber würden die bei der Kripo Bremen ohnehin bereits existierenden Halden unbearbeiteter Fälle von Alltagskriminalität weiter wachsen und neue hinzukommen. In letzter Konsequenz bedeute dies, "dass es in bestimmten Bereichen zu strafrechtlichen Verjährungen kommen wird".

Für Heiko Kück läuft dies mittelfristig auf eine neue Form von Kriminalpolizei hinaus. Dass die Encrochat-Deliktsfelder, bei denen es um hochkarätige Täter und hohe Haftstrafen ginge, vorrangig und mit aller Kraft bearbeitet werden müssten, sei unumstritten und Pflicht der Polizei, sagt der stellvertretende Landesvorsitzende des BDK. Auch wenn dadurch andere, nicht so hochwertige Fälle liegen blieben und eventuell sogar verjährten. Doch damit allein sei es nicht getan. Denn trotz des Encrochat-Coups der Polizei würden die Täter ja weitermachen. "Die werden sich andere Netzwerkstrukturen suchen, in denen sie ihre illegalen Geschäfte betreiben können." 

Aufhalten werde man diese Straftäter also nicht, konstatiert Kück. "Aber natürlich werden wir weiterhin nachsetzen." Dafür sei jedoch nicht nur die Polizei gefordert, sondern auch die Politik. "Die muss verstehen, dass jetzt was Großes getan werden muss, um der Polizei diese Möglichkeiten zu geben." Ein Ansatzpunkt könne zum Beispiel die schnelle Rekrutierung von Seiteneinsteigern aus der freien Wirtschaft sein. "Fachleute, die wissen, wie man das Vermögen der Straftäter schnell sichert. Denn die wissen ja jetzt, dass wir ihnen auf der Spur sind."

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Aber auch die Polizei selbst müsse sich umstrukturieren, sagt Kück. Derzeit habe man Kommissariate mit festen Zuständigkeiten und eine Reihe von unterstützenden Abteilungen. "Das ist alles sehr fest strukturiert." Doch jetzt fehle es in den Fachgebieten Rauschgift und Organisierte Kriminalität natürlich plötzlich an Personal. "Da müssen nun schnell Leute hin, doch dafür fehlen die entsprechenden Stellen. Da reagiert der Apparat einfach zu langsam." Deshalb von heute auf morgen eine neue Kripo zu formen, ginge selbstverständlich nicht, räumt Kück ein. Wohl aber wäre es möglich, eine entsprechende Übergangsorganisation zu schaffen, die eine neue Struktur in die gesamte Organisation brächte. Doch dafür bräuchte die Polizei die Rückendeckung vom Innensenator und klare Signale der Politik. "Ist das überhaupt gewollt? Zumal damit natürlich auch Finanzmittel verbunden sind, die da reingesteckt werden müssten."

Großen Illusionen geben sich die beiden Polizeigewerkschafter in dieser Hinsicht aber nicht hin. "Unter den Rahmenbedingungen, bei denen wir in Bremen schon seit längerer Zeit angekommen sind, wird es ein großer Kampf werden, sich da durchzusetzen", erwartet Heiko Kück und appelliert in Richtung Bürgerschaft und Senat. "Wir haben jetzt die Chance, wirklich was zu erreichen." Dafür benötige man Unterstützung: "Politiker, die sagen: Der Polizei geben wir jetzt die Möglichkeiten und das kostet auch was." Und das Ganze nicht irgendwann in ein paar Jahren, sondern möglichst schnell. "Uns geht wirklich die Luft aus."

Zustimmung bei Michael Hauk: Die Encrochat-Ermittlungen hätten Schwerstkriminalität in einer Form und Güte offenbart, die selbst erfahrene Kripo-Beamte überrascht habe. "Und da stellt sich dann wirklich die Frage, ob die Politik das auch für die Zukunft so hinnehmen will."

Zur Sache

Sonderkammer am Landgericht?

In Bremen gibt es laut Justizsenatorin inzwischen 100 eingegangene Ermittlungsverfahren, die auf die Erfolge der französischen Polizei im Zuge der „Encrochat“-Entschlüsselung zurückgehen. Um diese Fälle zeitnah abarbeiten zu können, fordert der Bremische Richterbund eine temporäre „Encrochat-Kammer“ am Landgericht sowie die Verstärkung der Amtsgerichte.

Die Staatsanwaltschaft wird aus diesem Grund bereits vorübergehend mit zusätzlichen Stellen ausgestattet, was der Verein Bremischer Richter und Staatsanwälte ausdrücklich begrüßt. "Allerdings müssen auch die Gerichte mit zusätzlichen Richtern und Folgepersonal ausgestattet werden, damit die sicher zu erwarteten Prozesse sachgerecht und zeitnah bearbeitet werden können", heißt es in einer Pressemitteilung des Richterbundes. Die Ermittlungsrichter am Amtsgericht seien schon heute erheblich belastet, und die bereits eingegangenen Strafverfahren brächten das Landgericht an die Grenze seiner Belastbarkeit. "Am Landgericht muss, wie in anderen Bundesländern auch, eine zusätzliche temporäre Strafkammer eingerichtet werden, damit die Encrochat-Verfahren zeitnah und mit vollem Einsatz bearbeitet werden können“, fordert Gesa Kasper, stellvertretende Vorsitzende des Bremischen Richterbundes.

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