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Interview mit Bürgermeister Carsten Sieling "Es geht nicht darum, Luftschlösser zu bauen"

Die Bremer Zukunftskommission soll Konzepte für die Stadt bis 2035 entwickeln. Bürgermeister Carsten Sieling (SPD) erklärt, was er sich davon erhofft - und weshalb er es gut findet, Visionen zu haben.
17.09.2017, 16:22 Uhr
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Von Jürgen Theiner

Herr Sieling, Bremen braucht Zukunft, aber braucht Bremen auch eine Zukunftskommission? Warum überlassen Sie es nicht dem Ideenwettstreit der politischen Parteien, Perspektiven für das Bundesland aufzuzeigen? Weshalb das neue Format?

Carsten Sieling : Politische Entscheidungen über konkrete Maßnahmen werden natürlich weiterhin von den gewählten Gremien gefasst. Bürgerschaft und Senat spielen da die entscheidende Rolle. Aber wir stehen in Bremen vor einer Wegscheide…

Sie meinen die neuen finanziellen Spielräume ab 2020.

Richtig. Und in dieser Situation wollen wir Sachverstand aus Bremen und von außerhalb einbeziehen, um in einem breiten Beteiligungsprozess Zukunftsperspektiven für unser Bundesland zu entwerfen.

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Sie sind nicht der erste Bürgermeister, der so etwas versucht. Beratungsgremien außerhalb des regulären Politikbetriebs hat es auch in der Vergangenheit schon gegeben. Die Ergebnisse wurden dann feierlich überreicht, aber kaum in praktisches Regierungshandeln umgesetzt. Weshalb sollte das diesmal anders sein?

Da widerspreche ich. Es hat in der Vergangenheit durchaus gute Beispiele dafür gegeben, dass externe Beratung von der Politik in Entscheidungen umgesetzt wurden. Als das erste Sanierungsprogramm konzipiert wurde, standen dahinter solche Beratungen. Der Erfolg unserer Universität hat dadurch gewaltig Schub erhalten. Mir liegt vor allem daran, dass wir uns als Senat mit Experten aus Bremen und von außerhalb darüber austauschen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Wir dürfen nicht nur im eigenen Saft schmoren. Und ich habe umgekehrt auch ein großes Interesse sowohl von den Bremern als auch von externen Fachleuten vernommen, sich an diesem Prozess aktiv zu beteiligen.

Die Zukunftskommission soll Konzepte für die Zeit bis 2035 entwickeln. Ist es überhaupt noch sinnvoll, Perspektiven für einen so langen Zeitraum auszubrüten? Die Welt dreht sich so schnell und die Politik muss auf so viel Unvorhergesehenes reagieren, dass man auch sagen könnte: Lasst uns lieber „auf Sicht“ fahren, statt Luftschlösser zu entwerfen.

Es geht nicht darum, Luftschlösser zu bauen, und „auf Sicht“ sind wir lange genug gefahren. Ich erlebe, dass es wieder einen Wunsch gibt, über Visionen zu reden. Ich wähle ganz bewusst diesen Begriff. Heute sagt keiner mehr: Da muss du zum Arzt gehen, wie es Helmut Schmidt mal ausgedrückt hat. Die Menschen wollen wissen, wo es hingeht. Wir hatten in der finanziellen Konsolidierungsphase viel zu lange eine Zeit, in der wir gezwungen waren, „auf Sicht“ zu fahren. Da jetzt rauszukommen, ist wichtig für unser Bundesland und das Selbstbewusstsein der Bremerinnen und Bremer.

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Als im Sommer vergangenen Jahres das Stadtamt fast kollabierte und die Opposition schon von Staatsnotstand sprach, sagten Sie: Bremen muss funktionieren. Wäre es nicht ein lohnendes mittelfristiges Ziel, zumindest dies sicherzustellen, bevor man in Visionen schwelgt?

Im Unterschied zur Situation in 2016 kann ich heute mit Fug und Recht sagen, dass die Dinge fast alle wieder „im Lot sind“. Wir haben keine Schlangen mehr vor den Ämtern, wir treiben mit Hochdruck den Ausbau von Kindergartenplätzen voran und wir haben im Doppelhaushalt für 2018/19 nochmal 186 Millionen Euro zusätzlich für Bildung bereitgestellt. Und noch einmal: Ich möchte, dass wir uns heute schon Gedanken darüber machen, wie wir die neu gewonnenen Gestaltungsspielräume ab 2020 nutzen wollen. Damit dürfen wir nicht erst in zwei Jahren beginnen.

Es gibt bereits einen ganzen Schwung mittel- und langfristiger Handlungskataloge aus den Senatsressorts, und zwar für die verschiedensten Politikfelder. Ich nenne nur mal das Innenstadtkonzept 2025 oder das Strukturkonzept Land Bremen. Was wird grundsätzlich anders sein, wenn sich die Zukunftskommission über die Themen beugt?

Wir nehmen das, was bereits vorliegt, als Ausgangspunkt der Arbeit. Aber wir wollen das einer Überprüfung unterziehen. Und zwar sowohl durch Fachleute, die von außen auf Bremen blicken, als auch durch bremische Akteure. Dabei möchte ich erreichen, dass wir die bestehenden Konzepte mehr aufeinander beziehen und dann auch stärker aus einem Guss handeln.

Wenn Sie schon die bremischen Akteure ansprechen: Mit denen sollte der Senat doch ohnehin ständig im Dialog stehen, oder?

Natürlich stehen wir in einem regelmäßigen Dialog etwa mit der Handelskammer oder der Arbeitnehmerkammer, dem BUND oder dem Zentralelternbeirat, um nur einige zu nennen. Aber bisher sprechen wir nicht mit allen Akteuren zugleich. Der spannende Punkt an dem jetzt beginnenden Format ist, dass sich die unterschiedlichen Sichtweisen sowohl der Bremer Akteure als auch der auswärtigen Fachleute auf unser Land begegnen. Es muss um Argumente und Konzepte gerungen werden.

Wer hat die Experten aus der Wissenschaftsszene ausgesucht und wovon hat man sich bei der Auswahl leiten lassen?

Die Expertenliste hat der Senat zusammengestellt. Wir haben uns angeschaut: Wer ist auf den drei Themenfeldern, die wir uns vorgenommen haben, durch wichtige Beiträge in Erscheinung getreten? Wer kann über die wissenschaftliche Einrichtung, der er oder sie vorsteht, etwas Besonderes einbringen? Wenn wir beispielsweise den Präsidenten der Leibniz-Gemeinschaft für die Mitwirkung gewinnen konnten, dann ist das schon eine Hausnummer.

Man hört, dass Sie mit der Finanzsenatorin uneins darüber sind, wie unbefangen in den Gesprächskreisen gedacht werden soll. Karoline Linnert plädiert dafür, dass die Konzepte finanziell geerdet und realitätsnah sein müssen, während Sie eher dafür eintreten, sich den Themen erst einmal ohne Denkverbote zu nähern. Ist das so?

Den Spannungsraum zwischen dem, was für Bremen machbar ist, und dem, was es an Visionen geben kann, den sehen wir beide. Ich erkenne da keinen Unterschied. Der finanzielle Rahmen ist vorgegeben, nämlich die zusätzlichen Haushaltsmittel, die Bremen ab 2020 erhält. Das sind zunächst 487 Millionen Euro jährlich abzüglich der Altschuldentilgung. In diesem Korridor bewegen wir uns.

Was kostet das Projekt Zukunftskommission eigentlich? Immerhin wirken dort zahlreiche, zum Teil hochrangige Behördenvertreter in ihrer Dienstzeit mit, und die auswärtigen Fachleute begnügen sich wohl auch nicht mit einem warmen Händedruck des Bürgermeisters.

Es entstehen keine großen zusätzlichen Kosten. Wir beauftragen ja keine Gutachter wie McKinsey oder Roland Berger, die hier zu Zeiten der großen Koalition aufgelaufen sind. Damals wurden Millionen ausgegeben. Wir finden, dass es durchaus auch eine Ehre ist, uns zu beraten, und das ist auch so aufgenommen worden. Die Fachleute, die wir gewinnen konnten, fordern keine Honorare, sie bekommen lediglich ihre Aufwendungen erstattet.

Wie sehr zielen Sie mit der Zukunftskommission auf die Bürgerschaftswahl im Mai 2019? Manche Kritiker sagen: Der Sieling möchte für das gewählt werden, was er für die Zukunft verspricht und weniger für das, was er in seinen vier Jahren als Bürgermeister erreicht hat.

Wenn wir 2019 zur Wahl stehen, werden wir eine ganze Menge vorzuweisen haben. Nicht nur die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen, die uns ab 2020 jährlich zusätzliche Haushaltsmittel in dreistelliger Millionenhöhe beschert, sondern auch die gute Bewältigung der Herausforderungen, die sich mit der Zuwanderung für unser Bundesland verbinden, deutlich mehr Kindergartenplätze, große wirtschaftliche Erfolge und vieles mehr. Im Herbst 2018 wollen wir die in der relativ kurzen Zeit bis dahin möglichen Beratungsergebnisse vorlegen. Und nach den Wahlen entscheidet wie immer die Mehrheit der Bürgerschaft über die Zukunft.

Das Gespräch führte Jürgen Theiner.

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