Manchmal braucht es nicht viel, um eine Utopie zum Leben zu erwecken. Im zweiten Obergeschoss der Stadtbibliothek reichen eine Küchenzange, zwei aufklappbare Plastikboxen und drei laminierte Zettel, die erklären, was an diesem Ort passiert. „Fairteiler“ nennt sich die Station, die hier aufgebaut ist. „Fairteiler“, eine Kombination aus den Wörtern „fair“ und „teilen“. Wer will, kann hier zwischen Büchern und Zeitschriften Lebensmittel hinterlegen anstatt sie in den Müll zu werfen. Wer will, kann vorbeikommen und sich kostenlos an dem Angebot bedienen.
Annemarie Herms-Buerhop sitzt am Informationsschalter der Bibliothek gleich gegenüber dem „Fairteiler“. Gerade fragt ein älterer Herr sie, wo er denn wohl die aktuelle Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“ finden könne. Herms-Buerhop hilft ihm gern weiter. Tagesgeschäft. Nebenbei schaut sie immer wieder mal Richtung „Fairteiler“. Denn Herms-Buerhop ist nicht nur Bibliothekarin, sondern auch Foodsaver. Sie rettet ehrenamtlich Lebensmittel. Eine Herzensangelegenheit.

Eine „Utopie“, sagt Annemarie Herms-Buerhop, „ich weiß, aber ich glaube daran, dass man im Kleinen etwas bewegen kann. Jeder kann etwas tun.“
An diesem Mittwoch ist Welternährungstag. Immer am 16. Oktober erinnern die Vereinten Nationen daran, dass Millionen Menschen auf der Erde hungern und wie wichtig eine gesunde Ernährung ist. Die Zahlen sind erschreckend. Etwa jeder elfte Mensch weltweit leidet Hunger, 733 Millionen. 2,8 Milliarden Menschen können sich keine gesunde Ernährung leisten. Dem gegenüber stehen Millionen Tonnen von Lebensmitteln, die weggeworfen werden. Allein in Deutschland sind es jedes Jahr rund elf Millionen.
Menschen wie Annemarie Herms-Buerhop wollen sich damit nicht abfinden. Foodsaver wie sie sammeln aussortierte, aber noch ess- und trinkbare Lebensmittel in Supermärkten, Bäckereien oder Kantinen ein, für sich selbst, aber auch für andere; für Freunde, Nachbarn, Kindergärten, Vereine. Dabei sehen sich die Foodsaver nicht als Konkurrenz zu Tafeln. „Wir sind Freunde und Partner der Tafeln“, sagt Herms-Buerhop. Wenn es zum Beispiel um die Abholung von Waren aus Supermärkten geht, gelte für Foodsaver immer „Tafel first“.
Foodsaver sind gut vernetzt
Wenn Annemarie Herms-Buerhop von ihrem Arbeitsplatz in der Stadtbibliothek den „Fairteiler“ im Blick behält, tut sie dies nicht, um zu kontrollieren, wer etwas bringt oder wer sich wie viel herausnimmt aus der Box. Anders als zum Beispiel bei den Tafeln ist Bedürftigkeit keine Voraussetzung, um mitzumachen. Vielmehr gehe es Foodsavern darum, eine Kultur des Tauschens und Teilens zu etablieren, wie es auf der Homepage von foodsharing.de heißt. Foodsaver sind untereinander vernetzt, in Whatsapp-Gruppen zum Beispiel oder über die Internetplattform foodsharing.de. Wer etwas abzugeben hat, informiert die anderen. Immer mit dem Ziel, Lebensmittel vor dem Mülleimer zu bewahren.
Annemarie Herms-Buerhop sieht das so: In jedem Lebensmittel stecken natürliche Ressourcen und menschliche Arbeit. Ein Bauer pflanzt an, pflegt und erntet. Ein Bäcker verarbeitet die Zutaten. „Und das, was so viele Beteiligte geschaffen haben, wird später einfach auf den Müll geworfen?“, fragt sie. Nicht mit ihr. Wie schön wäre es stattdessen, wenn es Lebensmittelverschwendung irgendwann einmal gar nicht mehr geben würde. Eine „Utopie“, sagt sie selbst, „ich weiß, aber ich glaube daran, dass man im Kleinen etwas bewegen kann. Jeder kann etwas tun.“
Mit dieser Einstellung ist sie in Bremen längst nicht alleine. Rund 1600 Menschen in der Stadt sind Mitglied der örtlichen Foodsharing-Bewegung, die in Deutschland, der Schweiz und Österreich existiert. Mehr als 1200 Tonnen Lebensmittel haben die Bremer Retter nach eigenen Berechnungen in den vergangenen zehn Jahren vor dem Mülleimer bewahrt. Mit über 90 Partnern - Restaurants, Läden, Händler - arbeiten die Bremer zusammen.
Mit einem Kinofilm fing alles an
Es sind das Buch „Die Essensvernichter“ und der Kinofilm „Taste the waste“, die 2010 das Thema Lebensmittelverschwendung ins öffentliche Bewusstsein rücken. Erstmals wird die ganze Dimension deutlich. Zu der Zeit werfen deutsche Haushalte Lebensmittel im Wert von 20 Milliarden Euro weg. 500.000 Lkw hätte man damit beladen können. Aufgereiht hätte das eine Brummikette von Berlin bis Peking ergeben. In Bremen gründet sich schon wenig später eine Regionalgruppe. Herms-Buerhop ist seit viereinhalb Jahren dabei und inzwischen zuständig für den Bezirk Bremen-Nord.
An diesem Vormittag ist es am „Fairteiler“ in der Stadtbibliothek noch ziemlich ruhig. Zwei Salatköpfe hat jemand in die Box gelegt. Aber Herms-Buerhop weiß aus Erfahrung, dass im Laufe des Tages noch weitere Lebensmittel dazukommen werden, vor allem Obst und Gemüse, aber auch Back- und Trockenwaren. Mal ein oder zwei Teile, oft aber auch mehr. Neulich, erzählt sie, seien an einem anderen „Fairteiler“ in der Stadt 200 Konserven mit Cocktailfrüchten abgestellt worden.
Neun „Fairteiler“-Stationen gibt es in Bremen, unter anderem in der Martin-Luther-Gemeinde Findorff und in der Zionskirche in der Neustadt, in der Stadtteilbibliothek Vegesack und dem Quartierszentrum Huckelriede, im Bürgerhaus Obervieland und am Marktplatz der Begegnung in der Neuen Vahr. Dort, wo Kühlschränke aufgestellt sind, dürfen auch Milchprodukte oder Aufschnitt abgegeben werden. Kein Fall für die „Fairteiler“ sind dagegen geöffnete Konserven, roher Fisch und rohes Fleisch sowie in der Regel zubereitete Speisen.
Als letzte Bastion vor der Mülltonne bezeichnet sich die Bewegung selbst. Ihre Mitglieder beschränken sich dabei nicht auf das Sammeln, Teilen und Tauschen. Die Foodsharing-Bewegung hat sich auch einen Bildungsauftrag erteilt. Herms-Buerhop zum Beispiel leitet Workshops, geht in Kindergärten, klärt auf. Was ist noch essbar? Was bedeutet das Mindesthaltbarkeitsdatum? Wie kann ich abgelaufene, aber noch genießbare Ware, Obst und Gemüse zum Beispiel, lecker verarbeiten? „Es geht darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Lebensmittel etwas Wertvolles sind“, sagt sie.
Als Foodsaverin irgendwann aufzuhören, kann sie sich nicht vorstellen. Dafür ist sie zu sehr vom Sinn ihres Tuns überzeugt. Und sie sieht Fortschritte. Supermärkte, hat sie festgestellt, würden inzwischen längst nicht mehr so viel Ware wegwerfen wie noch vor ein paar Jahren. Und manchmal erlebt sie den Erfolg ihr Aufklärungsarbeit gleich unmittelbar vor Ort. „Wenn im Kindergarten ein Kind sein Pausenbrot nicht mag und es am liebsten in den Müll werfen würde, dann aber ein anderes Kind sagt, dass das doch nicht geht und das Kind das Brot schließlich doch isst, dann weiß ich: Ich habe ein tolles Ehrenamt.“