Als hätte er die sprichwörtlichen Samthandschuhe an, so behutsam trägt Rolf Umbach, Bibliothekar des Hauses Seefahrt, ein uraltes Dokument in den eindrucksvollen Wappensaal herein. Er ist das Herzstück des weltweit ältesten, noch existierenden Sozialwerks für in Not geratene Seeleute. Seine Wände sind bedeckt mit den Wappen der Mitglieder des Hauses Seefahrt. Viele Namen der Bremer Patrizier sind darunter.
Das älteste Wappen stammt aus dem Jahr 1754. Vorsichtig befestigt Umbach das schon leicht fleckige Pergament, die Stiftungsurkunde aus dem Jahr 1545, an der Wand hinter dem mit reichen Schnitzereien verzierten Stuhl, auf dem in Kürze der Verwaltende Vorsteher des Hauses Seefahrt Platz nehmen wird. Die Urkunde ist ein beredtes Zeugnis der glanzvollen Seefahrtsgeschichte Bremens. Klangvolle Namen von Reedereien wie dem Norddeutschen Lloyd, später dann der Werften AG Weser und Vulkan begründeten einst Ruhm und Reichtum der Hansestadt.
Kurz vor der Schaffermahlzeit werden von der sogenannten Session, in der die kaufmännischen und seemännischen Mitglieder zusammenkommen, wichtige Entscheidungen getroffen. So ist es auch Tradition bei der 475. Ausgabe der Schaffermahlzeit, die diesen Freitag in der Oberen Rathaushalle begangen wird. Bei der Session vor der Schaffermahlzeit ist auch die Stunde von Klaus Thormählen, dann legt er vor der großen Versammlung Rechenschaft darüber ab, wie er im abgelaufenen Jahr gewirtschaftet hat. Der 81-Jährige ist seit fünf Jahren Verwaltender Kapitän des Hauses Seefahrt.
„Das ist ein Fulltime-Job“, betont er und das glaubt man ihm sofort. Ein Fulltime-Job, bei dem die Stunden nicht gezählt werden, ist es besonders dann, wenn alles auf die prestigeträchtige Traditionsveranstaltung zuläuft. Dann werden das mit dem Motiv des von 1665 stammenden Tores bedruckte Geschirr, das Silberbesteck und die Schmuckaufsätze und Humpen aus Silber vom Seefahrtshof in Bremen-Grohn ins Rathaus transportiert. Seit 1952 wird die Schaffermahlzeit im Rathaus ausgerichtet. Im selben Jahr wurde der neue Seefahrtshof in der jetzigen Gestalt mit seinen Backstein-Reihenhäusern errichtet.
Ein Symbol der Freigebigkeit
Das Tor, auf dem der Meeresgott Neptun mit seinem Dreizack, eingerahmt von zwei Schiffern steht, hat im Bremer Westen Ende des Zweiten Weltkrieges als einziges Relikt des Seefahrtshofes an der Lützower Straße den Feuersturm der Bombenangriffe überstanden. Nun steht es am Eingang des Geländes in Bremen-Grohn. In goldenen Lettern ist ihm Sinn und Zweck der Stiftung Haus Seefahrt eingeschrieben: „Aus Freigebigkeit von Kaufleuten und Schifferen“. So, wie es schon in der Urkunde von 1545 festgelegt ist.
Ein Symbol dieser Freigebigkeit ist die sogenannte Gotteskiste aus dem Jahr 1780, die am Eingang zum großen Wappensaal steht und in der vier Schlüssel stecken. Hier wurden Strafgelder, die nach etwaigen Verstößen fällig waren, deponiert. Zurzeit wohnen knapp 60 Menschen, die der christlichen Seefahrt verbunden sind, auf dem Seefahrtshof in Bremen-Grohn, ohne Miete zahlen zu müssen, davon zwölf Ehepaare, neun alleinstehende Damen und sieben alleinstehende Herren sowie sechs Studierende, darunter eine Studentin.
Das wurde 2010 von der Session so beschlossen. Voraussetzung für den Abschluss eines Mietvertrages auf dem Seefahrtshof ist es, dass eine Bedürftigkeit vorliegt. Zudem hat das Haus Seefahrt zurzeit 36 Förderstipendien an den nautischen Nachwuchs vergeben. Darüber hinaus bekommen 19 Witwen eine monatliche Unterstützung in Form einer Zusatz-Rente und eines Weihnachtsgeldes. Dass so mancher Kapitän in finanzielle Not geriet, sei auch der Ausflaggung deutscher Schiff geschuldet, sagt Thormählen.
Die Frauen-Frage sorgt in jedem Jahr vor der Schaffermahlzeit für Diskussionen in der Öffentlichkeit. Dabei gibt es durchaus weibliche Mitglieder in Haus Seefahrt, derzeit sind es vier. Jede Offizierin und jede Kapitänin kann sich um eine Mitgliedschaft bewerben. Die erste Kapitänin, die dem Sozialwerk beitrat, war Barbara Massing, die vor zwei Jahren als Kapitänsschafferin an der Schaffermahlzeit teilnahm. Damals sei sie schon an Krücken ins Rathaus gekommen und leider wenig später an den Folgen eines schweren Unfalls, den sie im chinesischen Meer erlitt, gestorben, erzählt der Verwaltende Kapitän.
Kandidatur für das Amt der Bundespräsidentin
Die Lotsentreppe war nicht richtig an ihrem Schiff befestigt worden, sodass die Kapitänin aus großer Höhe auf das Lotsenboot stürzte. Thormählen kann sich durchaus an eine Nautikerin erinnern, die ihm imponierte, als er 1955 die sogenannte „Mosesfabrik“ in Hamburg besuchte: Anneliese, die jeden Morgen in der Elbe schwimmen ging und später als 1.Offizierin und Kapitänin zur See fuhr.
Als Thormählen 1993 bei der Schaffermahlzeit selbst die Damenrede hielt, kandidierte die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher wenig später für das Amt der Bundespräsidentin. In der ursprünglichen Fassung seiner Rede wollte er die Frage stellen, wie sich Haus Seefahrt dann dazu stellen wolle. Ob eine Bundespräsidentin dann nicht doch eingeladen werden müsse. Er erinnert sich daran, dass ihm kurz vor Weihnachten aufgetragen wurde, dass er seine Rede wohl noch einmal ändern müsste.
Einer der Prövener, so werden die Bewohner des Seefahrtshofes genannt, ist Kapitän Karl Günter Mundt. Der Verwaltende Kapitän kennt ihn gut, sind die beiden doch einst zusammen als junge Offiziere bei Dauelsberg die Range Große Seen in Kanada zu den Westindies in die Karibik gefahren. „Damals waren wir noch zu rund 32 Leuten an Bord. Heute sind es gerade mal zwischen acht und zehn. Es wird eines Tages noch soweit kommen, dass nur noch der Kapitän und sein Papagei an Bord sind“, moniert der gebürtige Wilhelmshavener mit einem Augenzwinkern. Thormählen setzte damals seinen Kopf durch und verdiente sich mit dem eigenen, hart erarbeiteten Geld die Ausbildung für die Schiffsjungenschule in Hamburg.
Gegen den Rat seines Vaters, der den Wunsch hatte, dass er die elterliche Firma übernehmen sollte, wollte er partout Kapitän werden. Wenn Mundt und Thormählen von den alten Zeiten erzählen, in denen sie mit harter Arbeit ihr Geld verdienten, dann betont der Verwaltende Kapitän immer wieder: „Das ist keine Story!“ Der Kontakt mit dem nautischen Nachwuchs tut Karl Günter Mundt gut, der sein Metier von der Pike auf gelernt hat. So hat sich der 79-jährige gebürtige Vegesacker, der seit 2011 in Bremen-Grohn lebt, mit dem 23-jährigen Patrick Sell angefreundet, der seit Dezember auf dem Seefahrtshof wohnt. Beide fahren gern auf der „Franzius“ gemeinsam die Weser hoch, denn Mundt besitzt das Kapitänspatent, das Sell erst noch machen will.
Das Haus Seefahrt atmet Seefahrergeschichte, nicht nur im Wappensaal, sondern auch im kleinen Saal, in dem Modelle von Seenotkreuzern stehen und Gemälde von Segelschiffen hängen. Im Keller hat Bibliothekar Rolf Umbach ein kleines Museum mit Exponaten eingerichtet, die ihm alte Fahrensleute hinterlassen haben. Sein Vater gehörte selbst einst zum illustren Club der Cap Horniers, der sich 2003 auflöste. Der Wappenvogel der Cap Horniers, der Albatros, schmückt einige der Devotionalien. Das Credo „Seefahrt ist not“ von Gorch Fock gilt bis heute.