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Interview Warum Jugendliche auf die schiefe Bahn geraten

Warum geraten Jugendliche auf die schiefe Bahn? Wie lassen sich kriminelle Karrieren verhindern? Dennis Rosenbaum, stellvertretender Geschäftsführer von Bremens größtem Träger für Streetwork, gibt Antworten.
21.09.2022, 05:00 Uhr
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Warum Jugendliche auf die schiefe Bahn geraten
Von Felix Wendler

Herr Rosenbaum, wie haben Sie die Debatte über Jugendkriminalität in den vergangenen Tagen erlebt?

Dennis Rosenbaum: Wir haben die Pressemeldungen verfolgt und sind über die Kontakte, die unsere Streetworker in den Stadtteilen haben, natürlich insgesamt nah dran an den Jugendlichen. Die Häufung ist nicht ganz überraschend – auch wegen der Umstände. Wir stellen fest, dass die Jugendlichen durch die Pandemie und jetzt durch den Krieg in Europa sehr in ihren Grundfesten erschüttert sind, was die eigenen Zukunftsaussichten betrifft. Je mehr die Unsicherheit und Perspektivlosigkeit bei jungen Menschen steigt, desto anfälliger werden sie auch für andere Formen der Konfliktlösung.

Die Gewaltausbrüche sind also eine Reaktion auf die Umwelt?

Bei Einzelnen gibt es sicherlich einen Zusammenhang. Ich will das aber nicht verallgemeinern: Wir stellen auch bei "unseren" Jugendlichen weiterhin viel Hilfsbereitschaft fest, zum Beispiel gegenüber Zugewanderten aus der Ukraine. 

In Summe sehen Sie aber eine Häufung der Probleme...

Eine Häufung sehe ich in letzter Zeit über öffentlich wahrnehmbare Meldungen, mitunter auch durch Rückmeldungen der Streetwork-Teams. Ich möchte aber betonen, dass in den Statistiken rund um Jugendkriminalität und Jugendgewalt die Zahlen seit vielen Jahren sinken. Einzelne Fälle sind natürlich in der Wahrnehmung besonders präsent.

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Vaja richtet sich laut eigener Beschreibung an Jugendliche und Heranwachsende "die nicht ausreichend oder gar nicht mehr von anderen Angeboten der Jugendarbeit erreicht werden". Welche Rolle spielt das Thema Kriminalität in der täglichen Arbeit?

Das spielt überall da eine Rolle, wo es unter den Jugendlichen eine Relevanz hat. Mit denen, die nicht erreicht werden, sind auch nicht explizit kriminelle oder gewalttätige Personen gemeint. Das können auch Gruppen sein, die an anderen Angeboten kein Interesse haben. Wir stellen einen vertrauensvollen Kontakt her, der über Jahre aufgebaut wird – oft zu denjenigen, die von der Öffentlichkeit als störend wahrgenommen werden. Auch die sind zumeist nicht kriminell, aber wenn sie es werden, dann haben wir einen anderen Zugang zu ihnen, weil wir schon vorher Kontakt hatten. 

Folgendes Szenario: Ein Streetworker hat das Vertrauen zu einer Gruppe aufgebaut, in der ein Einzelner kriminelle Tendenzen zeigt, vielleicht schon Anzeigen gesammelt hat. Wie holt man diesen Jugendlichen auf den richtigen Weg zurück?

Da setzen wir entweder im Gruppenkontext oder im Einzelgespräch an. Oft wünschen sich die Betroffenen Vier-Augen-Gespräche, weil das in der Gruppe nicht ausgebreitet werden soll. Außerdem sind wir Vermittler für weitere Maßnahmen. Wir haben gemerkt, dass die Jugendlichen verlässlicher an Stellen behördlicher Art ankommen, wenn unsere Mitarbeiter das anschieben. Zum Beispiel bei der Jugendhilfe im Strafverfahren, die einem Gerichtsverfahren vorgeschaltet ist. Je nach Clique kann auch gruppenorientiertes Arbeiten angesagt sein. Es gibt das Projekt "Gefangene helfen Jugendlichen", das die harte Realität im Knast zeigen soll. Leider konnte das während der Pandemie lange Zeit nicht stattfinden.

Wie viel bringen solche Projekte wirklich?

Messbare Zahlen kann ich nicht liefern. Für mich ist klar, dass es eine andere Dimension von Nähe ist, wenn die Jugendlichen mit Betroffenen in Kontakt treten. Diese Erfahrung lässt sich über Gespräche im Stadtteil nicht im gleichen Maße vermitteln. Alle erreicht man natürlich nicht, aber das kann auch nicht unser Anspruch sein.

Was kann Vaja leisten?

Kriminelles Verhalten ist oft das Ergebnis von Kontrollverlust. Ein großer Teil unserer Arbeit besteht darin, den Jugendlichen Kontrolle über sich selbst zu ermöglichen beziehungsweise zurückzugeben. Zum Beispiel über ein Zugehörigkeitsgefühl im Stadtteil oder im Sportverein. Wo kommt in der Nachbarschaft eine Fläche für Jugendliche hin? Es geht um Teilhabe und Mitspracherecht.

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Im Zusammenhang mit den jüngsten Gewalttaten ist auch über den familiären und kulturellen Hintergrund jugendlicher Straftäter gesprochen worden. Inwieweit berücksichtigen die Streetworker solche Hintergründe bei ihrer Arbeit?

Das Elternhaus spielt eine entscheidende Rolle dabei, den eigenen moralischen Kompass auszurichten. Dazu kommen gesellschaftliche Entwicklungen und persönliche Erfahrungen. In der Arbeit selbst sind wir parteilich für die Jugendlichen. Das heißt, dass wir nicht ohne Zustimmung der Jugendlichen mit den Eltern oder anderen Angehörigen in Kontakt treten. Ansonsten würden wir das Vertrauen und letztlich den Zugang aufs Spiel setzen. 

Wenn sich Vaja beispielsweise in einem Milieu bewegt, in dem viele Jugendliche mit arabischem oder kurdischem Hintergrund leben – setzt man dann auf Streetworker, die ähnliche Hintergründe haben?

Wir versuchen, unser Team möglichst divers aufzustellen. Das gilt sowohl für Geschlecht, Alter und Erfahrung als auch für den Migrationshintergrund der Mitarbeiter. Ich kann aber aus Erfahrung sagen, dass der Migrationshintergrund im direkten Kontakt nicht das Entscheidende ist. Es gibt genug Beispiel von Kollegen, die keinen solchen Hintergrund haben, aber trotzdem zur Vertrauensperson von migrantischen Jugendlichen geworden sind.

Das Gespräch führte Felix Wendler.

Zur Person

Dennis Rosenbaum (49)

ist stellvertretender Geschäftsführer des Vereins zur Förderung akzeptierender Jugendarbeit (Vaja). Der gelernte Sozialarbeiter ist seit 1998 für Vaja tätig. 

Zur Sache

Angriff auf Transfrau: Täter ermittelt

Zweieinhalb Wochen nach dem Angriff auf eine Transfrau in einer Bremer Straßenbahn haben die Ermittler den mutmaßlichen Haupttäter identifiziert. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft handelt es sich um einen 13-Jährigen, der demnach nicht strafmündig ist. Dem Jugendlichen wird vorgeworfen, der Frau mehrmals mit der Faust ins Gesicht geschlagen zu haben. Der Angriff war aus einer etwa 15-köpfigen Gruppe heraus erfolgt. Die 57-Jährige musste mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht werden. Vergangene Woche hatte die Polizei zunächst vier Beteiligte gestellt. 

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