Henning Lühr: Der Begriff der Staatskunst geht auf Aristoteles zurück, etwas moderner ausgedrückt würde man wohl einfach von politischem Handeln oder noch einfacher von Regieren sprechen. Aber ich mag das alte Wort, weil in ihm eben Kunst im Sinne von Kunstfertigkeit enthalten ist. Außerdem dient es einem konkreten Ziel, nämlich der staatlichen Wohlfahrt oder schlicht einem Staat, der allen Bürgern zugutekommt. Auch das schwingt in dem Begriff der Staatskunst mit. Es geht um die Frage, was die Digitalisierung für den Staat und seine Behörden bedeutet. Es stehen also gesellschaftliche und politsche Fragen im Vordergrund, nicht so sehr technische Aspekte.
Weil alle technischen Herausforderungen bei der Digitalisierung der Verwaltung gemeistert sind, kümmert man sich jetzt also um die Folgen?So ist es natürlich nicht. Aber wer Digitalisierung nur technisch denkt, betreibt das, was ich die Elektrifizierung von Verwaltung nenne. Die vorhandene analoge Bürokratie wird dann einfach eins zu eins in eine digitale Bürokratie übertragen. Davon hat ja niemand etwas. Bei einer richtig verstandenen Digitalisierung wird Verwaltungshandeln neu gedacht, es werden gewohnte Abläufe auf den Prüfstand gestellt, es geht darum, die Daten zwischen den Ämtern ans Laufen zu kriegen, nicht den Bürger. Aber das hat in der Praxis Folgen für den Staat und ich halte es für klug, diese möglichen Folgen von Beginn an in den Blick zu nehmen. Das tun wir auf dieser Tagung.
Es geht etwa um die Konsequenzen algorithmischer Entscheidungen. Das kennt jeder Bürger aus anderen Feldern: Computer werden mit Daten gefüttert und entscheiden dann scheinbar objektiv über den Zinssatz eines Kredits oder die Kosten einer Versicherung. In der Finanzverwaltung verwenden wir Algorithmen unter anderen bei der Bearbeitung von Steuererklärungen. Darin sind Schwellenwerte enthalten, ab denen der Computer uns sagt, wann Einzelfallprüfungen sinnvoll sind, wenn beispielsweise Kosten für Arbeitsmittel vom erwartbaren Durchschnitt abweichen. Der Bürger hat dabei zu Recht den Anspruch auf Transparenz.
Wie wollen sie diese Transparenz herstellen, wenn der einzelne Sachbearbeiter gar nicht weiß, wie Kollege Computer zu seinem Ergebnis kommt?Entscheidungen von Verwaltungen müssen nachvollziehbar und überprüfbar sein. Menschen sollen diese Entscheidungen treffen, Computer sind nur Hilfswerkzeuge. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir als Staat keine Blackboxen nutzen können, wo oben die Daten rein und unten die Entscheidung rauskommt, ohne dass wir wissen, wie diese Entscheidung zustande kommt. Entwickelt die IT-Industrie dafür die richtigen Lösungen oder verschiebt sich Entscheidungsmacht in abgeschottete Systeme? Wie kann eine kleine Kommune sich gegen die Know-how-Vorsprünge der Industrie behaupten? Wie müssen wir unsere Bediensteten für solche Aspekte ihrer Arbeit sensibilisieren und zu bewussten Entscheidungen vielleicht sogar gegen Kollege Computer ermutigen? Welchen Wertekompass braucht Politik dafür? Unter anderem um solche Fragen geht es auf der Tagung.
Wir sind gerade erst dabei zu erkennen, wie sich die Fragestellungen Stück für Stück von der technischen Agenda zu den gesellschaftspolitischen Aspekten verschieben. Wir haben uns darum bewusst für ein Kolloquium entschieden, das Praktiker aus den Verwaltungen mit Gesellschaftswissenschaftlern und Ethikern zusammen bringt, um den Diskurs zu suchen. Das ist für uns als Verwaltung nicht immer angenehm, aber dringend notwendig.
Das Gespräch führte Timo Thalmann.Henning Lühr (69)
ist seit 2003 Staatsrat im Finanzressort und mehrfach mit Preisen bedachter Experte zum Thema E-Government.
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Zur Tagung „Digitale Daseinsvorsorge“ kommen an diesem Montag und Dienstag, 24. und 25. Februar, rund 270 Fachleute und Wissenschaftler in Bremen zusammen.