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Nach dem Pisa-Schock Wie gern lesen Jugendliche? Was eine Bremer Buchhändlerin beobachtet

Immer mehr Jugendliche lesen gerne. Die Online-Plattform Tiktok hat daran einen entscheidenden Anteil. Warum das so ist und was junge Menschen heute gern lesen.
09.12.2023, 05:00 Uhr
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Von Meike Dannenberg

Beruta Adolf, Eigentümerin der Georg-Büchner-Buchhandlung am Ziegenmarkt, sieht immer mehr junge Leute in ihrem Geschäft. „Sie setzen sich auch auf unser Sofa und stöbern gemeinsam. Am Anfang waren sie schüchtern, aber inzwischen tauen sie auch auf, wenn ich frage, ob ich ihnen helfen kann.“ Adolf hat auch deshalb mit ihrer 22-jährigen Auszubildenden Charlotte von Rönne gemeinsam ein Bücherregal mit Literatur für junge Erwachsene eingerichtet.

In der Buchhandlung beherrscht die „Young Adult“ Ecke jedoch nicht die glitzernd, pastellige Optik, die bei Grossisten zu finden ist, sondern eine Mischung aus individuellen Leseempfehlungen und den als limitiertes Sammelobjekt begehrten Büchern mit auffälligem Farbschnitt. „Der New Romance- und Young Adult-Trend ist nur der Einstieg in das Lesen“, sagt Buchhändlerin Adolf.

Tiktok als Treiber

Dass sich Jugendliche wieder intensiv für Bücher begeistern, hat sich herumgesprochen, aber der Grund dafür ist vielen Erwachsenen oft noch ein Rätsel. Der Boom geht von einer App aus, die bisher wenige Menschen über dreißig nutzen. Zu schnell, zu flackernd, zu laut, reichlich Gesichts- und Spaßfilter, Schnittmöglichkeiten und Musik: Tiktok. Die Inhalte der kurzen Videos reichen von tanzenden Teenagern über niedliche Tiere, Kochen und jede Menge Selbstdarstellung. Und Bücher.

In der Rubrik Booktok zeigen Nutzer sich als „Buchbestis“ bei der Lektüre, ihren Bookhaul, also Bücherbeute nach dem Einkaufen. Es gibt Zusammenschnitte von Zeichnungen und Fotos, wie Leser sich die Figuren in ihren Lieblingsbücher vorstellen, Anleitungen, zum Basteln von Miniaturbüchern oder kleinen Buchwelten, sogenannten Book-Nooks und Regale, immer wieder Regale, mit farblich sortierten Buchrücken. Oder die Bücher stehen hier absichtlich verkehrt herum, damit der schöne rare Farbschnitt zu sehen ist, die offene Seite des Buches wird immer mehr zum Hingucker.

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„Es ist ein Widerspruch, dass eine App, die so kurzweilig und schnell ist, dazu beiträgt, dass Bücher erfolgreicher sind. Ich verstehe das bis heute nicht“, sagt Sarah Sprinz. Die Autorin und studierte Medizinerin gehört mit ihrer „Dunbridge Acadamy“-Reihe zu den erfolgreichsten deutschen Autorinnen des Genres, das bei Tiktok die Booktok-Community beherrscht: New Adult. Geschichten für überwiegend Leserinnen zwischen sechzehn und fünfundzwanzig, romantisch, ein bisschen erotisch, manchmal fantastisch. „Das war das, was ich schon immer geschrieben habe“, sagt Sprinz. „Ich denke, wir deutschen New-Adult-Autorinnen schreiben die Bücher, die wir selbst damals gerne gelesen hätten.“

Auch das klassische Jugendbuch punktet

Die gleiche Richtung für Jüngere heißt Young Adult. Aber auch das klassische Jugendbuch punktet. Auf der seit Neustem von dem Unternehmen veröffentlichten Booktok-Bestsellerliste steht Cornelia Funke mit dem vierten Band der Tintenwelt derzeit auf dem ersten Platz. Auch George Orwells Klassiker „1984“ erlebte bei Booktok ein Revival, vor allem in der Originalausgabe, weshalb das Regal mit englischsprachigen Ausgaben in der Büchner-Buchhandlung ebenfalls inzwischen viele New Adult Romane enthält. Wie einige von Coleen Hoover. Der Erfolg der amerikanischen Autorin, die inzwischen mit weltweit geschätzten 20 Millionen Buchverkäufen als Booktok-Phänomen gilt, begann, als Leserinnen sich dabei filmten, wie sie bei der Lektüre ihrer Bücher weinten. Viele der kurzen Videos sind gefühlvoll, von lustig über albern bis tränenreich.

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Der etablierten Riege der Literaturkritik treiben Hoovers Bücher womöglich aus anderen Gründen das Wasser in die Augen, dennoch wurde Denis Scheck von Tiktok unlängst als Juror des Tiktok-Book-Awards Deutschland berufen. Eine Wahl, die in der Community für Irritation sorgte. „Aber ich müsste doch blind und taub sein für die literarischen Entwicklungen unserer Gegenwart, wenn ich mich nicht auch dort aufhalten möchte, wo sich die meisten jungen Menschen aufhalten, und das ist nun mal Booktok“, sagt Scheck.

Auf die Frage, ob das denn seine Lektüre sei, meint er. „Das, was auf Booktok abgefeiert wird, ist auch nicht schlechter, als das, was sich gelegentlich auf der Spiegelbestsellerliste findet. Das Grauen hat viele Gesichter.“ Er habe aber hier ebenso Bücher gefunden, die ihm gefallen hätten.

Schneller Wandel

Ausgezeichnet als Autorin des Jahres 2023 wurde Jana Crämer. Die 41-jährige Autorin klärt schon seit 2015 medial unter anderem über die Folgen ihrer Essstörung auf. Bei Tiktok alleine hat sie über eine halbe Million Follower. „Ich möchte die Person sein, die ich damals gebraucht hätte“, sagt sie. Booktok hat viele Gesichter. Einige von ihnen wandeln sich schnell. Was eben noch viral ging, kann kurz darauf schon wieder vorbei sein.

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„Für eine kleine Buchhandlung sind die Trends viel zu schnell, um die Bücher vorrätig zu haben“, sagt Beruta Adolf. „Deshalb bieten wir persönliche Beratung und das an, was uns gefällt.“ Sie hat sich als Weihnachtstipp für jüngere Leser für Nicola Yoons „Und zwischen uns die ganze Welt“ entschieden. Charlotte, Beruta Adolfs Auszubildende, liest selbst unterschiedlichste Bücher. „Manchmal habe ich das Gefühl, die Verlage trauen uns jüngeren Lesern nicht viel zu. Sie sollten etwas mehr Vertrauen haben!“ Ihr Geschenketipp ist von Jenny Han „Ohne Dich kein Sommer“, der zweite Band der erfolgreichen Coming-of-Age-Trilogie „Der Sommer, in dem ich schön wurde“. Han war bereits Bestsellerautorin, bevor es Tiktok gab, aber seit Booktok findet sie noch mehr begeisterte Leser.

Info

Tiktok und Booktok

Seit Ende 2021 gibt es Tiktok in Europa, über 134 Millionen Menschen nutzen inzwischen hier die App. Laut Media Control, Marktforschungsinstitut für den Buchmarkt, wurden Videos mit dem Hashtag #booktok in Deutschland seitdem rund 300 Millionen Mal aufgerufen und initiierten in 2023 bisher 8,4 Millionen Buchverkäufe. Weltweit, gab das Unternehmen im Mai dieses Jahres an, wurden Videos mit dem #booktok 130,5 Milliarden Mal angeschaut. Dabei versteht Tiktok selbst sich nicht als soziales Netzwerk, sondern als Content-Plattform. Content wird von sogenannten Creatorn erstellt, die auch im Dienst von Unternehmen oder Marken aktiv sein können. Der Algorithmus der Plattform erkennt Vorlieben der Nutzer bereits nach wenigen Videos und zeigt auf der For-you-page nur personalisierte Inhalte. TikTok wird wegen des chinesischen Mutterkonzerns Bytedance in westlichen Länder teils als Sicherheitsrisiko eingeschätzt, auch wegen der Möglichkeit der Manipulation von Nutzern.

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