Regen am Freitag, Regen am Sonntag – und dazwischen ein Musikfest-Sonnabend, wie er sein soll. Als wenn es von Intendant Thomas Albert bestellt gewesen wäre, wurde das Wetter zum Auftakt der bereits 35. Ausgabe bis zum Abend immer besser. Und so tummelten sich wie traditionell schon im Vorfeld der "Großen Nachtmusik" mit ihren Konzertschienen um 19 Uhr, 20.30 Uhr und 22 Uhr Hunderte Menschen zwischen den Ratskeller-Ständen auf dem Marktplatz und dem Domshof. Musikfestauftakt, das heißt eben immer auch: flanieren in Bremens guter Stube, die dann zur Piazza wird.
Auch ein paar Menschen in schwarzen Böhse-Onkelz-T-Shirts waren darunter, und man war fast versucht zu fragen, ob sie nicht lieber bleiben wollten anstatt zum Heavy-Metal-Konzert auf der Bürgerweide zu pilgern. Ein paar Promis konnte man ebenfalls sichten, unter anderem die Krimiautorin und bekennende Klassikfreundin Donna Leon, Erfinderin der in Venedig spielenden Commissario-Brunetti-Romane.
Und während im Festsaal des Rathauses beim Eröffnungsempfang Bürgermeister und Kultursenator Andreas Bovenschulte (SPD), Cornelius Neumann-Redlin (Unternehmensverbände im Lande Bremen), WESER-KURIER-Vorstand David Koopmann und natürlich Thomas Albert mit ihren Gästen auf das gute Gelingen der Veranstaltungen bis zum 7. September anstießen, öffneten sich draußen nach und nach die Türen und Tore. Eindrücke von sechs der neun Konzerte lesen hier:
Le Cercle de l'Harmonie
Eine launige Begrüßung durch Intendant Thomas Albert, schon setzt das Solocello kurz nach sieben in der der bestens besuchten Glocke das Startsignal zum Musikfest. Im Alpenpanorama von Gioachino Rossinis „Wilhelm Tell“-Ouvertüre lässt Dirigent Jérémie Rhorer jeden Pinselstrich spüren – malerisch sausen die Windböen, tropft der erste Regen, donnert das urwüchsige Gewitter, lässt der Hirt auf der Alm das Englischhorn dudeln. Und die rettende Kavallerie im Schweizer Freiheitskampf federt zuletzt locker im Sattel.
Im ersten Klavierkonzert von Franz Liszt, von Yulianna Avdeeva am Érard-Flügel von 1838 gespielt, sorgen die historischen Instrumente anschließend dafür, dass das auf einer Idée fixe herumreitende Werk nicht zu martialisch gerät. Die virtuose Solistin lässt es lieber reizvoll glitzern.
Die beiden bekannten ungarischen Tänze in g-Moll von Johannes Brahms (Nr. eins und fünf) serviert Jérémie Rhorer, klanglich ein wenig wüst, mit Promenadenkonzert-Schmiss. Hier zählt der Wiedererkennungseffekt: Beide Stücke werden wiederholt. (Sebastian Loskant)

Yulianna Avdeeva und Le Cercle de l'Harmonie in der Glocke.
Sarah Willis
Die Hornistin Sarah Willis ist eine feste Instanz im Ensemble der Berliner Philharmoniker, doch seit einiger Zeit hegt sie noch eine ganz andere Passion. Mit jungen Musikern aus Kuba verbindet sie die Klänge und Rhythmen der Insel mit Elementen klassischer europäischer Musik. Im Innenhof der Nord LB demonstrieren Willis und ihre Sarahbanda getaufte achtköpfige Band bei ihrem ersten Auftritt in Bremen daher, wie es geklungen haben könnte, "wenn Mozart nach Havanna gefahren wäre".
Man hätte dem Salzburger ein Reisestipendium gegönnt: die "Kleine Nachtmusik" möchte man jetzt gar nicht mehr anders hören als in der formidablen Mambo-Version. Willis, die zudem eine überaus charmante Moderatorin ist, lässt ihren Mitspielerinnen und Mitspielern viel Raum; dem Saxofonisten Yuniet Lombida oder Edgar Olivero am E-Piano beispielsweise.
Kubanischen Standards wie "Can Can", bekannt aus dem Wim-Wenders-Film "Buena Vista Social Club", verpassen Sarahbanda ein frisches Update. Horn, Klavier, Saxofon und Violine bringen die simple Melodielinie zum Schwingen, bevor Harold Madrigal Frias an der Trompete in einem Solo brilliert. Als Zugabe gibt's im 19-Uhr-Konzert dann nicht Mozart, sondern Bizet: "L'amour est un oiseau rebelle". (Iris Hetscher)
Bach-Collegium
Auch ein Filigrangestalter wie der japanische Bach-Spezialist Masaaki Suzuki kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der St. Petri-Dom für polyfone Musik ungeeignet ist. Die hoch-, ja höchstrangige Interpretation zweier Choralkantaten von 1724 – „O Ewigkeit, du Donnerwort“ BWV 20 und „Jesu, der du meine Seele“ BWV 78 – des weißhaarigen Altmeisters erklingt aus dem akustischen Nebel. Da Kammerchor und Orchester zum linken Seitenschiff ausgerichtet sind, sieht man im Hauptschiff viele Rücken und hört nur indirekte Klänge.
Carolyn Sampsons Sopran und Alexander Chances Altus mischen sich etwa im Duett „Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten“ aus BWV 78 klanglich hinreißend, doch die Details ihrer Gestaltung sind beim Konzert um 20.30 Uhr nicht auszumachen. Ähnlich spürt man bei Tenor Benjamin Bruns und Bassist Christian Immler die hohe Kompetenz, aber den Text versteht nur, wer mitliest. Im Continuo sorgt das (historisch fragwürdige) Cembalo zur Orgel für etwas mehr Kontur, im Orchester gefallen die zwei Oboen. Eine intensive Aufführung, leider am falschen Ort. (Sebastian Loskant)
Ulrich Matthes/Olena Kushpler
Eine mittlerweile schöne Tradition beim Musikfest sind Lesungen, kombiniert mit klassischer Musik. Dieses Mal kann das Publikum im Festsaal der Bremischen Bürgerschaft Ulrich Matthes lauschen, einem der besten deutschen Schauspieler, egal ob auf der Bühne oder im Film. "Übers Meer" klammert als Thema Gedichte und Kurztexte. Am Flügel sorgt die ukrainisch-deutsche Pianistin Olena Kushpler mal sensibel, mal frech, immer virtuos für die Übersetzung von Worten in Klänge, lässt Wassertropfen perlen ("Melisande" von Mélanie Bonis) oder die Flut steigen ("Mad Rush" von Philip Glass).
Gleich zu Beginn des 20.30-Uhr-Konzerts schwappen in Eric Saties "Gnossienne Nr. 5" Wellen ans Ufer, und Ulrich Matthes erzählt dazu von Sehnsucht nach Salzwasser, Schaum oder auch "Windstärke 13" aus Gedichten des türkischen Lyrikers Orhan Veli Kanik und des mindestens an deutschen Küsten beliebten Joachim Ringelnatz, dem auch Matthes zugetan ist. Außer "Signal für Kuttel Daddeldu" liest er noch zwei weitere Werke. Es gibt Nachdenkliches, auch mal Düsteres von Ingeborg Bachmann über Colette, Paul Celan und Marina Zwetaewa ("es lebe die Gischt!") bis hin zu Sylvia Plath, der ein Ausflug an die Küste Rettungsanker war: "Ich steige aus dem Auto, strecke mich, schnuppere – das Meer". (Iris Hetscher)
Ensemble Irini
Zum ersten Mal beim Musikfest bietet das 2015 gegründete Ensemble Irini aus Frankreich – je zwei Sopranistinnen, Altistinnen, Tenöre, Bässe und Zugposaunistinnen – unter der katzengleich wendigen Dirigentin Lila Hajosi in St. Johann ein musik- und religionsgeschichtlich spannendes Programm. Zehn Werke des Frankoflamen Guillaume Dufay und seiner griechischen Zeitgenossen Janus Plousiadenos und Manuel Doukas Chrysaphes drehen sich um die Bemühungen von Papst Eugen IV. nach 1438, römische und byzantinische Kirche wieder zusammenzuführen (was mit der Einnahme Konstantinopels 1453 durch die Osmanen obsolet wurde).
Dufay unterstützte den Papst mit kunstvoll verwobenen Stimmengeflechten, seine orthodoxen Kollegen ließen die Männer lange Liegetöne und die Frauen darüber eine weitbogige Melodie singen. Und umgekehrt. Auch das Scheitern wurde im Schulterschluss von Orient und Okzident intensiv beklagt. Die fantastischen Vokalisten sorgen im 22-Uhr-Konzert für eine abwechslungsreiche Reise ins Mittelalter. Eine Entdeckung: Das Ensemble Irini möchte man bald wiederhören. (Sebastian Loskant)
Lehmanns Brothers
"Das ist das Musikfest, hier wird nicht getanzt", sagt ein Sitznachbar zu seiner Begleiterin. Weit gefehlt – er hat nicht mit den Lehmanns Brothers gerechnet, die den Innenhof des Landgerichts bei ihrem 22-Uhr-Konzert in einen Club verwandeln. In einen Hexenkessel des Funk, um es genau zu beschreiben; noch genauer: tiefschwarzen 70er-Jahre-Funk, bevor dieser von Disco glatt poliert wurde.
Das Sextett aus dem Südwesten Frankreichs, das dieses Jahr schon bei dem anderen großen Bremer Musikfest, der Jazzahead, zu hören war, übertönte das von der Bürgerweide herüberdröhnende Gewummer der Böhsen Onkelz locker. Denn außer der musikalischen Basis-Zutat, perkussion- und bassgetriebenem Funk, mischen sie jede Menge Jazz, Afrobeat, ab und an Soul in ihren so präzise servierten wie von lang ausgedehnten Soli geprägten Sound.
Da kann man gar nicht sitzen bleiben, und als Sänger und Keyboarder Julien Anglade gleich zu Beginn fordert, man solle doch aufstehen und tanzen, ist der Bann gebrochen. Anglade, dessen wandlungsfähige Stimme an Bob Marley erinnert, mischt sich immer wieder unters Publikum und verwandelt dieses in einen Chor. Mehr als eine Stunde geht das so, und ja, es ist eine Party. (Iris Hetscher)

Lehmanns Brothers im Innenhof des Landgerichts.