Jack Nicholson als Psychopath im leeren Hotel ("Shining"), Leonardo DiCaprio am Rande des Wahnsinns in einem Inselleuchtturm ("Shutter Island"): Wenn im Film das Grauen herbeischleicht, kommt das Orchesterstück "Lontano" des Ungarn György Ligeti gerade recht. Nicht nur Stanley Kubrick und Martin Scorsese haben die lang liegenden Töne und Akkorde, die durchs Orchester wandern, sich ballen und auflösen, mit Erfolg eingesetzt. Die Bremer Philharmoniker unter Marko Letonja bewiesen jetzt in der Glocke, dass dieser Klassiker von 1967 auch ohne Bilder für aufgestellte Nackenhaare sorgt. Der Dirigent schlug nur ruhig den Vierertakt. Doch wie sich zum einsamen Flötenton immer mehr Instrumente dazugesellten, ein großes Crescendo an- und abschwoll, die Streicher vibrierten, bis das Ganze weit entfernt ("lontano") wie ein Tinnitus-Ton verblich – das war gespenstisch.
Die zweite Geister-Viertelstunde schloss sich direkt an. Letonja erläuterte kurz, was es mit Spielarten wie dem "Bartók-Pizzikato" auf sich hat (Streicher zupfen ihre Saiten so stark, dass sie aufs Holz des Instruments knallen), dann sorgte der zweite Ungar, Peter Eötvös, mit dem "Lied der Sirenen" für gelinden Grusel. Beim antiken Dichter Homer sind die Sirenen Vögel mit Menschenköpfen und scharfen Krallen, die mit ihrem Gesang Seefahrer anlocken und töten. Der pfiffige Odysseus verstopfte seinen Gefährten die Ohren mit Wachs und ließ sich ohne Gehörstöpsel an den Mast binden, um ungefährdet zu lauschen. Franz Kafka und James Joyce haben später behauptet, die Sirenen hätten sich gerächt, indem sie geschwiegen hätten. Und Odysseus habe nur so getan, als ob er etwas höre. All dies möchte Eötvos in seinem Stück von 2021 vermitteln und fährt dafür klassische Schauerklänge auf mit Geigenschreien und Schlagzeuggeklingel. Doch so leicht erzählt sich die Geschichte von List und Gegenlist in Tönen nicht. Am Ende erwies sich das Stück im Vergleich als das schwächere Werk.
Stark war hingegen die Leistung der Bremer Philharmoniker. Die Südkorea-Tournee hat sich offenbar inspirierend ausgewirkt. "Das Lied von der Erde" im zweiten Teil des Abends – die sechs chinesischen Gedichte zwischen Lebensrausch und Todesahnung – legte Letonja bewusst großsinfonisch an, Gustav Mahler ist ihm spürbar Herzenssache. Man vernahm jede Einzelheit der fantastischen Instrumentation, hörte hervorragende Soli wie den Oboenruf im zweiten, den Geigengesang im fünften und die einsame Flöte im letzten Lied. Einziger Nachteil bei so viel Emphase: Der Piano-Bereich wurde nicht immer genügend ausdifferenziert.
Heldentenor mit Strahlkraft
Beide Solisten, beide ein Glücksgriff, waren dem Forte-Ansturm indes gewachsen. Der Neuseeländer Simon O'Neill überstrahlte mit durchschlagendem Heldentenor noch die Orchesterwogen im einleitenden "Trinklied vom Jammer der Erde". Zudem erwies er sich – ob er nun den Affen auf den Gräbern, die Jugendparty im Porzellanpavillon oder den "Trunkenen im Frühling" schilderte – als souveräner Gestalter. Katherine Magiera von der Oper Frankfurt verwöhnte ihrerseits mit einem warmen, obertonreichen Alt, der die Hörer wohlig einhüllte. "Ich hab Erquickung not", "Wie eine Silberbarke schwebt der Mond" – ausdrucksvoller kann man diese Passagen kaum singen.
Das halbstündige Schlusslied "Der Abschied", von den Vogelrufen der Holzbläser, den Trillern der Hörner, von Harfen und Mandoline begleitet, wurde zu einem wehmütigen Entschwinden, das berührte. Gänsehaut-Momente ohne Kinospuk. Das Publikum im leider sehr dünn besetzten Saal reagierte begeistert, auf Mahlers "Auferstehungssinfonie", die Letonja für die kommende Saison plant, darf man sich schon freuen.