Wie lange braucht ein Mensch, um seinen Platz in der Welt zu finden? Um erwachsen zu werden, der zu sein, der er immer hätte sein sollen? Reicht ein Leben dafür überhaupt? Würde es reichen, wenn wir zweihundert, dreihundert oder gar fünfhundert Jahre Zeit hätten? Und welche Rolle spielt unser Geschlecht dabei? Macht es einen Unterschied? Ebenso wie die Welt um uns herum? Und muss man wirklich so leben, wie die Gesellschaft es einem vorschreibt?
Es ist eine fast schon erschlagende Sammlung an Fragen, die im Zentrum von Virginia Woolfs fantastisch-fiktionaler Biografie "Orlando" steht. Und doch hat sich die Bremer Shakespeare Company an den für die Bühne wirklich nicht einfachen Stoff aus dem Jahr 1928 herangewagt. Ist das Wagnis gelungen?
Worum es geht: "Orlando" handelt von einem jungen Adligen im England des 16. Jahrhunderts, der in der Gunst von Königin Elisabeth I. steht und sehr naturverbunden ist. Wie gerne würde er ein Gedicht über eine von ihm geschätzte Eiche schreiben, doch es gelingt ihm nicht, seine Gefühle auf Papier zu bannen. Orlando verliebt sich mehrfach, besonders verfällt er einer russischen Gräfin namens Sascha, die ihn allerdings sitzen lässt.
Um einer anderen, etwas zu hartnäckigen Verehrerin zu entkommen, geht er nach Konstantinopel, wo er in einen mehrtägigen Schlaf verfällt und als Frau aufwacht. Erst nach und nach wird Orlando bewusst, wie sehr sich sein Leben, nun wo er eine Frau ist, verändert. Welche Vor- und Nachteile das neue Geschlecht mit sich bringt und wie anders er beziehungsweise sie nun von der Welt behandelt wird. Orlandos Reise erstreckt sich über mehrere von verschiedenen klimatischen Ereignissen begleitete Jahrhunderte, in denen Orlando kaum altert. Am Ende der Geschichte ist die Romanfigur gerade einmal 36 Jahre alt. Woolfs Erzählung endet im 20. Jahrhundert, wo Orlando auch endlich das Gedicht über den Eichbaum beendet.
Wie das in der Shakespeare Company aussieht: Der ursprünglich aus Brasilien stammende Regisseur Rodrigo Garcia Alves, der die vergangenen Jahre vor allem im Bereich der Tanz- und Performance-Kunst gearbeitet hat, inszeniert in der Shakespeare Company die Theaterfassung der Geschichte von Sarah Ruhl. Das Bühnenbild ist simpel, aber dennoch effektiv: Es besteht lediglich aus zwölf großen weißen Tauen, die zu Beginn des Stückes im Bühnenhintergrund eine Eiche formen und im Laufe des Abends immer neue Formen und Funktionen annehmen. Außerdem aus einigen kleinen Podesten, die die Schauspieler immer mal wieder ins Wackeln bringen. Ständer mit den Kostümen des Abends stehen wie Erinnerungen an Orlandos Lebensstationen am Bühnenrand (Bühne/Kostüme: Heike Neugebauer).
Die Mitglieder eines vierköpfigen Chores (Simon Elias, Tim Lee, Michael Meyer und Erik Rossbander) fungieren abwechselnd als Erzähler, treiben das Geschehen voran und sorgen dafür, dass auf der Bühne auch etwas passiert.
Was ist gut gelungen: Sofie Alice Miller spielt Orlando mit einer herrlich kindlich-euphorischen Begeisterungsfähigkeit, sodass es eine Freude ist, ihr zuzusehen. Es ist offensichtlich, dass diese Rolle für sie ein besonderes Herzensprojekt ist. Das Ensemble, zu dem auch noch Kathrin Steinweg, zum Beispiel in der Rolle der Sascha gehört, verdeutlicht, wie modern und aktuell der Stoff von Virginia Woolf auch heute noch ist. Und das, obwohl wir in einer Welt leben, die sich doch stark von allen Epochen unterscheidet, die Orlando durchlebt. Den großen Themen des Menschen – Liebe, Freiheit, Identität, Vergänglichkeit – kann auch die Zeit nichts anhaben.
Ein großartiger Kniff ist der Einsatz des vierköpfigen Chores, der für viele Lacher sorgt und ohne den die Geschichte auf der Bühne oft eher dahingeplätschert wäre.
Was ist nicht so gut gelungen: Mit 2,5 Stunden (inklusive Pause) ist "Orlando" zweifelsohne zu lang geraten. Zugegeben, es ist eine Herausforderung, die zahlreichen Irrungen und Wirrungen in Woolfs fiebertraumartigen Geschichte auf den Punkt zu bringen, dennoch hätten dem Stück einige Straffungen gutgetan.
Rodrigo Garcia Alves kündigte seinen "Orlando" bei einer Pressekonferenz im September als "punkige Welt mit vielen queeren Elementen" an, versprach ein "Stück, wie eine Klanginstallation" mit deutschen Chansons, Krautrock und historischen Sounds, außerdem mit Filmreferenzen und Tanz, um das typische Sprechtheater aufzubrechen. Viel gesehen hat man von all diesen Versprechungen auf der Bühne am Ende nicht. Das Geschehen bleibt dicht am Roman, witzige Einstreuungen, die man zu Beginn des Theaterabends noch häufiger findet, ebben im Laufe des Abends ab, so als hätte sich das Ensemble selbst nicht recht entscheiden können, was "Orlando" nun eigentlich sein soll – Tragödie, Komödie oder nichts von alle dem. Aber vielleicht ist genau das auch die zentrale Botschaft der Geschichte: Warum entscheiden, wenn man doch alles sein kann, was man will.