Frau Miller, der Roman "Orlando" von Virginia Woolf, in dessen Bühnenfassung Sie die Titelrolle spielen werden, kommt wie eine Biografie daher, ist aber eher ein Schelmenroman. Ein hübscher junger Adeliger aus England durchlebt eine Zeitreise von Queen Elizabeth I. bis zur Neuzeit, wird dabei nur 20 Jahre älter und wacht im 18. Jahrhundert plötzlich auch noch als Frau auf. Ist das nicht sehr verrückt?
Sofie Alice Miller: Ja, das ist ein fantastischer Kniff, weg vom Realismus, der viel Freiheit entstehen lässt und Grenzen des Denkens aufhebt. Am Ende des Romans fragt man sich: War das jetzt alles ein Traum? Waren alle Personen, die auftraten, nur Fantasiefiguren in Orlandos Kopf? Wir wissen, dass Virginia Woolf mit Stimmen in ihrem Kopf und Anfällen von Wahnsinn zu kämpfen hatte. Sie war mit einem Mann verheiratet, pflegte aber sehr offen eine intime Beziehung zu Lady Victoria Sackville-West, die gern in Männerkleidung reiste und der "Orlando" auch gewidmet ist. Ich habe das Theaterprojekt initiiert, weil auch ich mich oft mit den Rollen, die einem die Gesellschaft zuschreibt, gar nicht identifizieren kann. Weil ich mir selbst die Fragen stelle: Was bedeutet es, eine Frau, was, ein Mann zu sein?
Die Figur des Orlando dient also vor allem als Spiegel der Gesellschaft?
Unbedingt. Orlando macht zwar eine innere Entwicklung durch, aber wenn sich sein Geschlecht verändert, verändert sich die Figur gar nicht, sondern nur der Blick der Welt auf sie. Orlando wundert sich: Jetzt habe ich ein Kleid an und werde komplett anders behandelt. Seine Lebenssituation verändert sich völlig, nur weil er ein anderes Geschlecht hat. Es geht um die soziale Rolle, die ihm zugeschrieben wird, nicht um ihn selbst.
Regisseur Rodrigo Garcia Alves inszeniert in der Shakespeare Company die 2010 uraufgeführte Theaterfassung von Sarah Ruhl. Wie funktioniert "Orlando" auf der Bühne?
Das Stück zeichnet wirklich eine Lebensreise in verschiedenen Jahrhunderten nach. Ausgangspunkt ist Orlandos erste große Liebe zur moskowitischen Prinzessin Sascha, die sein gesamtes Leben prägen wird. Orlandos Texte stammen komplett aus dem Roman, manchmal spricht er von sich in der dritten Person. Und Sascha meldet sich immer wieder, auch singend. Außer diesen beiden Figuren steht ein Chor auf der Bühne, dessen vier Mitglieder als individuelle Erzähler die Handlung vorantreiben und als Figuren in die Szenen hineinspringen. Sie verändern auch das Bühnenbild, in dem sie mit vielen Seilen, die eine Art Seelenschiff markieren, Szenerien gestalten. Die Atmosphäre jedes Zeitalters soll spürbar werden – am Anfang wird natürlich Shakespeare zitiert.
Der ja auch gerne mit den Geschlechterrollen spielte. Ist Orlando letztlich ein Liebender in beiderlei Geschlecht?
Eine große Liebesgeschichte ist das Ganze auf jeden Fall mit der übergeordneten Frage "Was ist das Leben?". Diese Figur ist in beiden Geschlechtern wie ein Außerirdischer. Tilda Swinton, die den Orlando in der Verfilmung von 1992 gespielt hat, hat sinngemäß gesagt: Orlando könnte sich im nächsten Moment auch in eine Whiskeyflasche verwandeln. Der Perspektivwechsel ist entscheidend, um Schubladendenken zu durchbrechen. Selbst wenn unsere Gesellschaft eine andere ist als die von 1928, als der Roman erschien, ist das binäre Denken noch sehr weit verbreitet. Es tut gut, eine Figur zu verkörpern, die damit spielt und den Begriff von Freiheit erweitert.