Das muss man Radio Bremen lassen: Der Sender hat in den vergangenen 50 Jahren wenige „Tatort“-Ermittler verschlissen. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass in der bremischen TV-Krimi-Geschichte eine große Lücke klafft – im Umfang von 25 Jahren, von 1972 bis 1997. An diesem Montag ermittelt erstmals das neue Bremer Team: Linda Selb (dargestellt von Luise Wolfram), Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) und Mads Andersen (Dar Salim).
In ihrem ersten Fall müssen sie nicht nur ein Gewaltverbrechen und eine Entführung aufklären, sondern sich auch noch miteinander und den Zuschauern bekannt machen. Das ist Drehbuchautor Christian Jeltsch gelungen, muss man sagen. Mads Andersen, ein überlegter und zurückhaltender Charakter, hat in Kopenhagen verdeckt ermittelt und sich in Bremen in Sicherheit gebracht. Die übereifrige Berufsanfängerin Liv Moormann kommt aus Bremerhaven – und niemand macht darüber eine abschätzige Bemerkung.
Anders als 2001, als Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) Ermittlerin Inga Lürsen (Sabine Postel) an die Seite gestellt wurde. „Waren Sie schon mal in Bremerhaven, ich meine jobmäßig? Das ist das absolute Abstellgleis“ wurde ihm von Drehbuchautor Jochen Greve in der Folge „Eine unscheinbare Frau“ in den Mund gelegt. Bremerhavens Oberbürgermeister Jörg Schulz sah sich zu einer Protestnote an die ARD veranlasst.
Raue Schale, weicher Kern
Von Linda Selb erfährt man wenig. Das liegt zum einen daran, dass die BKA-Mitarbeiterin bereits seit 2006 hin und wieder in Bremer Episoden aufgetaucht ist. Zum anderen ist sie im Trio der eigenwilligen Unterkühlten die Meisterin. Die blasse Schöne hat das Gemüt eines Fleischerhunds, berufshalber, versteht sich. Und es gibt eine Szene, da ahnt man schon ... sie wird doch wohl nicht. Doch, sie wird – als sie unbeobachtet ist, verliert sie die Fassung und bricht in Tränen aus. Will heißen: raue Schale, weicher Kern.
Da gegen waren Lürsens und Stedefreunds Gemüter wohltemperiert. Lürsen begann 1997 in Bremen zu ermitteln, an ihrer Seite mehrere Partner bis 2001. Die erste Folge mit dem Titel „Inflagranti“ wurde Ende Dezember ausgestrahlt. Rufus Beck fahndete in der Rolle als Stefan Stoll mit, Alexander Strobele als Polizeipsychologe Kai Helmold. Diese Zeitung berichtete: „Mit ihrem Polizeiteam wollen sich die Bremer von den Beiträgen anderer Sender unterscheiden: Erstmals wird ein Polizeipsychologe die Fälle mit aufklären.“ Zwei Millionen Mark kostete nach Auskunft von Radio Bremen eine Folge. Das Budget ließ eine pro Jahr zu, hieß es damals. Später stieg der WDR bei einigen Folgen ein.
Der Bremer Tatort hat im Laufe der fast 25 Lürsen- und beinahe 20 Lürsen-Stedefreund-Jahre mehrfach von sich reden gemacht. Die Episode „Schatten“ war für den Adolf-Grimme-Preis und den Fernsehfilmpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste nominiert. Die Folge „Scheherazade“ beziehungsweise Ngo The Chau wurde 2005 mit dem Deutschen Fernsehpreis für die beste Kamera und mit dem Deutschen Kamerapreis bedacht. Regisseur und Drehbuchautor Thorsten Näter war für sieben Folgen verantwortlich. Auch der Bremer Filmemacher und mehrfach preisgekrönte Wilfried Huismann war als Autor für den TV-Krimi tätig. In den jüngsten Folgen ist Florian Baxmeyer zu einem Stammregisseur des Bremer „Tatorts“ herangereift.
Themenvielfalt
Thematisch schreckte Radio Bremen in den 39 Folgen mit Lürsen vor nichts zurück. Zu den bekannten Mordmotiven wie Neid und Eifersucht, Habgier und Rache gesellten sich unter anderem Vertuschung und Fanatismus. Die Krimis drehten sich um Umwelt- und Clankriminalität, Tierschutz und Werftenkrise, Rechtsextremismus und Terrorismus, das Rotlichtmilieu und Ehrenmorde, Waffengeschäfte und Asylpolitik, Korruption und Digitalisierung, selbst um Vampirismus. Ein großer Teil der ausgewählten Stoffe war gesellschaftspolitisch relevant, oft mangelte es nicht an sozialkritischen Untertönen und politischer Korrektheit. Das konnte großartig sein oder nervtötend – wie bei „Tatort“-Folgen anderer Rundfunkanstalten. Die erfolgreichsten Bremer Folgen nach Einschaltquote sammelten gut zehn Millionen Zuschauer vor dem Empfangsgerät.
„Ein ganz gewöhnlicher Mord“ verzeichnete laut der „privaten Internetseite Tatort-Fundus“ eine Quote von 53 Prozent. Das war der erste Bremer „Tatort“; er wurde 1973 ausgestrahlt, als der öffentlich-rechtliche Rundfunk noch eine Monopolstellung innehatte und Zuschauer unter drei TV-Kanälen wählen konnten. Ermittler war Walter Böck alias Hans Häckermann, Gustl Bayrhammer stellte Kriminaloberinspektor Melchior Veigl dar. Günter Strack war das Mordopfer, die ehemalige „Tagesschau“-Sprecherin Dagmar Berghoff trat als „Fräulein Schäfer“ auf. Regisseur war Dieter Wedel.
„Das ,Tatort‘-Aufnahmeteam von Radio Bremen ist für zwei Tage beim WESER-KURIER zu Gast“, notierte diese Zeitung am 18. Oktober 1972. Im Mittelpunkt der Dreharbeiten im Pressehaus „stehen die journalistischen Recherchen in einer Mordsache“. Die Rolle der Reporterin „in authentischer Umgebung in den Redaktionsräumen“ füllte Brigitte Grothum aus.
Zurück zum neuen Trio. Der Fall spielt im Milieu der Menschen, die es von Geburt an schwer haben, wo junge Frauen früh Kinder bekommen, als „Statussymbol“, wie Liv Moormann feststellt. Ein junger Mann namens Jannik wird tot aufgefunden, es scheint, als wäre er von dem Dach eines leer stehenden Gebäudes gefallen. Tatsächlich wurde nachgeholfen. Außerdem ist ein Neugeborenes aus einem Krankenhaus verschwunden. Wie sich zeigt, hängen die Fälle zusammen.
Überzogene Raubeinigkeit
An der Regiearbeit von Barbara Kulcsar lässt sich nichts aussetzen. Das Milieu der Aussichtslosigkeit ist ohne viele Worte beklemmend illustriert. Auch Wolfram, Bauer und Salim überzeugen. Die Nebenrollen sind mit Johanna Polley als junge Mutter und André Szymanski als ihr Vater (ein versoffener ehemaliger Werder-Profi) exzellent besetzt. Es sind die überzogene Raubeinigkeit und die Dialoge, die einem die Unterhaltung durch „Neugeboren“ etwas vergällen. „Verbrechen ist dreckig, aufklären noch mehr“, sagt Selb beispielsweise. Oder die Ermittler philosophieren gemeinsam über Schein und Sein: „Menschen, wenn sie Verbrechen begehen, sind die dann sie selbst? Und wenn das das Wahrhaftige ist, wo ist das in ihrem Leben sonst? (...) Habt ihr euch das nie gefragt?“, sagt Moormann.
Eine junge Frau mit sehr langen Fingernägeln stellt schließlich fest: „Das Leben fängt scheiße an und hört scheiße auf. Dazwischen tut es manchmal so, als gäb‘s Kuchen. Jannik, der war mein Kuchen.“ War die Folge „Neugeborene“ eine Art Vorspeise, war sie etwas zu süß. Mal schauen, wie die nächsten Gänge ausfallen.