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Premiere im Theater Bremen Frei sein, das wär's

Russische Kultur boykottieren? Nicht mit Regisseur Dušan David Pa?ízek. Der hat am Sonntag mit seiner Inszenierung von "Drei Schwestern" die neue Theater-Spielzeit eröffnet – eine Herausforderung.
29.08.2022, 15:59 Uhr
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Frei sein, das wär's
Von Simon Wilke

Es ist Spielzeiteröffnung im Theater Bremen, und auf dem Plan steht – ausgerechnet – "Drei Schwestern", das 1901 uraufgeführte Werk von Anton Tschechow. Dabei hatte es zuletzt immer wieder Diskussionen um die (Nicht-) Aufführungen russischer Werke gegeben. Eigentlich hatte das Stück schon 2020 zur Premiere gebracht werden sollen. Eine Planänderung angesichts des Krieges in der Ukraine stand jedoch für Regisseur und Bühnenbildner Dušan David Pa?ízek nie zur Debatte; für "eine leere quasi-politische Geste" hätte er das gehalten.

 Nun kommt es also mit Verspätung und einer ganz offensichtlichen Konsequenz, die sich aus dieser ergeben hat: Eine der Schwestern fehlt. Gabriele Möller-Lukasz sollte ursprünglich die Rolle der Mascha übernehmen, doch sie erkrankte in der Zwischenzeit. Stattdessen spielen vor allem die übrigen zwei Schwestern und die Souffleuse (Anna Zaorska) in diese Leerstelle hinein, ohne jedoch den Anspruch anzumelden, sie gänzlich zu schließen.

Das Werk selbst galt seinerzeit als neuartig, denn wer es besucht, den erwartet damals wie heute keine stringente Handlung, sondern lose aneinandergereihte Momentaufnahmen, die wie zufällig eingefangen sind. Ausgang und Ende nimmt das Stück in einer kleinen Stadt in der russischen Provinz. Hierher sind Irina (Irene Kleinschmidt), Mascha und Olga Prosorow (Verena Reichhardt) ihrem Vater, einem inzwischen verstorbenen General, einst aus Moskau gefolgt. Unterschiedlich dringlich treibt sie und ihren Bruder Andrej (Peter Fasching) mittlerweile jedoch vor allem eines um: der Wunsch nach einem Freiheitsgefühl, nach Veränderungen und geistiger Anregung. Die Rückkehr in die Hauptstadt ist dafür zum Symbol geworden. 

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Gesellschaft leisten ihnen Natascha (Lisa Guth), Andrejs Frau, die kaltherzig und von Machtstreben angetrieben, peu à peu die Kontrolle über Haus und Hof der Geschwister übernimmt. Dazu kommen der Baron Tusenbach (Matthieu Svetchine) sowie Stabskapitän Soljonyj (Martin Baum) und Oberstleutnant Alexander Werschinin (Alexander Swoboda), zwei überzeugte Militärs, die sich nach Krieg und letztlich nach Bedeutung sehnen.

An dieser Vorlage orientiert sich auch Pa?ízek, der jedoch einige grundsätzliche Änderungen vornimmt. Zuvorderst: Besetzt sind die verbliebenen Schwestern, im Original 20 und 28 Jahre alt, mit zwei Frauen, die jenseits der 50 sind. Das ist vor allem dort effektvoll, wo das Thema Liebe verhandelt wird. Hier die junge Irina, die nie verliebt war, damit hadert und sich endlich entschließt, eine Ehe einzugehen, einzig, um ihrem bedrückenden Dasein zu entkommen. Dem innewohnend die gealterte Irina, die bereits auf ein Leben in Einsamkeit zurückblicken kann und längst nicht mehr damit rechnet, Moskau jemals wieder zu sehen. Ansonsten jedoch bleibt dieser Kniff weitgehend folgenlos für die Inszenierung. 

Zudem hat Pa?ízek dem bis zum Wahnsinn verkrampften Soljonyj eine aufkeimende Schwäche für Baron Tusenbach angedichtet. Das funktioniert ganz hervorragend und unterstreicht im Folgenden eindrucksvoll sein inneres Ringen um Selbstachtung. Dieses Ringen ist es, das mit Ausnahme von Tusenbach alle Männer auf der Bühne eint. Konsequenz, Stolz, Pioniergeist – Dinge, die sie umso beherzter für sich beanspruchen, je verzweifelter sie sie in ihrem Leben suchen. Finden tun sie lediglich Abgestumpftheit, Unfreiheit, Perspektivlosigkeit. Und natürlich Alkohol. Ein Spiegelbild der russischen Gesellschaft? So ist es wohl gemeint, wenn auch sehr zugespitzt.

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Ähnlichkeiten mit der heutigen sozialen und politischen Gemengelage lassen sich ohnehin zuhauf finden, wenn man danach sucht. Nicht alle hat die Regie zu verantworten, vieles ist bereits im Stück selbst angelegt. Doch hier und dort kann sich Pa?ízek seinen Kommentar nicht verkneifen. Als es von Olga heißt: "Wir Prosorow-Schwestern, wir lieben Männer in Uniform", lässt er Irina trocken entgegnen: "Kranker Scheiß!". Moskau, der Ort der Hoffnung für die Schwestern, wird hier fast immer nur als "Mosk-au-au-aua" gesprochen. Auch eine Stichelei in Richtung ehemaliger (KGB-) Offiziere gibt es natürlich.

Wer "Drei Schwestern" zum Auftakt seiner Spielzeit wählt, mutet dem Publikum einiges zu, klassischer Stoff hin oder her. Aus oft ziellosen Dialogen, Antihelden und ihrem nicht enden wollenden Dämmerzustand kurzweilige zweieinhalb Stunden hervorzubringen, ist eine hohe Hürde. Diese Inszenierung nimmt sie jedoch über weite Strecken, die wenigen Längen verzeiht man. Das liegt sicherlich daran, dass Tschechows Stoff auch gut 120 Jahre nach seiner ersten Aufführung eher an Aktualität gewonnen als verloren hat. Doch insbesondere der feine Humor, der an den richtigen Stellen aufblitzt und alle Tristesse kurz vergessen macht, sowie das Ensemble, das aufopferungsvoll auf den Punkt spielt, machen diesen Abend sehenswert. Das honoriert auch das Bremer Publikum mit einem lang anhaltenden Applaus.

Info

Die nächsten Termine: 4. und 11. September, jeweils um 18 Uhr. Weitere Termine, Informationen und Karten unter www.theaterbremen.de.

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