Frau Zengin, auf der Theaterhomepage gibt es ein Gespräch zwischen Ihnen und der Regisseurin Rahel Hofbauer. Darin werfen Sie die Frage auf, warum einige uralte Stoffe, wie "Emilia Galotti", immer wieder neu gelesen werden und auf den Bühnen auftauchen. Ich werfe diese Frage mal zurück. Warum?
Elif Zengin: Die Geschichte von Emilia Galotti ist, wenn man sie auf den Kern runterbricht, noch sehr aktuell. Und genauso spannend ist, dass sich über die Jahrhunderte die Lesarten immer wieder ändern, je nachdem, was gesellschaftlich, politisch, sozioökonomisch gerade passiert. Es gibt so viele Dinge, die uns Menschen beeinflussen und es lohnt sich immer, mit diesen Einflüssen noch einmal ganz neu, aber ohne Überheblichkeit, auf alte Geschichten zu schauen.
Wie genau schauen Sie jetzt auf die alte Geschichte?
Als wir uns mit dem Stoff auseinandergesetzt haben, haben wir gemerkt, wie wenig Emilia Galotti als Titelfigur eigentlich vorkommt. Ihr Sprechanteil liegt unter zehn Prozent. Damit einher ging eine Unzufriedenheit, dass vor allen in Geschichten, die von Männern geschrieben sind, Frauen zwar eine Rolle spielen, aber wenig Raum bekommen. Dass sie von Projektionen und Vorstellungen von Männern geprägt sind. Wir wollen die Tatsache, dass Emilia Galotti kaum vorkommt, als totale Leerstelle darstellen und nehmen sie aus der Geschichte raus. Das wird vor allem sichtbar in Dialogen, in denen sie gar nicht mehr mitredet, und man die Stille spürt, die dadurch entsteht.
Das heißt: Emilia Galotti gibt es in Ihrer Inszenierung gar nicht?
Die Zuschauer dürfen gespannt sein, in welcher Form sie vorkommt. So wie Lessing das Stück geschrieben hat, taucht sie bei uns aber auf jeden Fall nicht auf.
Wofür steht der Unterstrich bei Ihrem Titel des Stücks?
Mit dem Unterstrich wollten wir die Lücke, die Emilia Galotti in unserer Inszenierung durch ihre Abwesenheit hinterlässt, typografisch anmerken.
"Emilia_Galotti" ist Ihr erster Einsatz als feste Dramaturgin am Theater Bremen. Was waren die größten Herausforderungen?
Ich denke, Kommunikation ist grundsätzlich immer eine Herausforderung. Bei uns im Team ist sie gut gelungen, aber es ist immer eine Arbeit mit verschiedenen Bedürfnissen, vorhandenen Möglichkeiten und Kompromissen, die gefunden werden müssen. Es geht darum, die Gedanken so fusionieren zu lassen, dass alle zufrieden sind. Das ist nicht immer einfach, aber hat bei uns größtenteils geklappt.
Warum haben Sie sich nicht für den anderen Weg entschieden? Emilia Galotti erst recht zu Wort kommen zu lassen? Wo sie doch bisher so wenig zu ihrer eigenen Geschichte sagen durfte?
Das gelingt auch durch die Lücke, die sie hinterlässt. Im zweiten Teil des Stückes wird es auch darum gehen, ihr eine Stimme zu geben. Da bekommt sie dann viel Raum und Zeit.
Da müssen Sie jetzt aber noch mehr verraten...
Also es gibt erst einen Prolog, dann den ersten Teil, der frei nach Lessing ist, und im zweiten Teil lassen wir Emilia Galotti als Stimme auftreten. Sie reflektiert darüber, was mit ihr passiert ist, und versucht, eine Sprache zu finden, um Gewalterfahrungen zu beschreiben. Die Schauspielerin Karin Nennemann hat Emilia Galotti hier ihre Stimme geliehen, und wir lassen sie mit ein bisschen Bühnenspektakel und zeitgenössischen Texten zu Wort kommen.
In Bremen ist das Schauspiel von Lessing Abiturstoff. Wie kann man als Theater dazu beitragen, eine Schülern vielleicht eher verstaubt erscheinende Erzählung lebendig zu machen?
Unser Team besteht aus jungen Theatermachern und Theatermacherinnen, weshalb ich es allen jungen Menschen nur ans Herz legen kann, gemeinsam mit uns auf diesen Stoff zu schauen. Denn: Kein Buch ist heilig! Es gibt immer sehr viele Möglichkeiten, es auszulegen. Wir zeigen eine davon. Und die inspiriert die Schüler und Schülerinnen vielleicht, eigene Interpretationen zu entwickeln.