Ein tagespolitischer Stoff im Musiktheater, das ist selten. Mit der ersten Oper der neuen Spielzeit ist das Theater Bremen dicht dran am Zeitgeschehen. Der Zweiakter "Doctor Atomic" des US-Komponisten John Adams, 2005 in San Francisco uraufgeführt, schildert in sieben Szenen das moralische Dilemma, in dem sich Robert Oppenheimer, der Erfinder der Atombombe, befand. "Putins Drohungen, Atomwaffen einzusetzen, haben die Bombe, die potentiell die ganze Menschheit zerstören kann, wieder ins Bewusstsein gerufen", stellt Musikdramaturgin Frederike Krüger fest. "Und der Film ,Oppenheimer' rückt das Thema noch zusätzlich in den Blick."
Anders jedoch als das rein biografische Hollywood-Epos benutzt die zweieinhalbstündige Oper ihre Figuren auch, um grundsätzliche Fragen von Moral, Forscherehrgeiz und Gottkomplex zu verhandeln. Komponist Adams und sein Texter, der Opernregisseur Peter Sellars, befragen das Geschehen mit poetischen Texten, es gibt einen Chor wie in der griechischen Tragödie. "Die große Qualität dieser Oper – und das kann nur das Theater bieten – besteht darin, die Zeit anzuhalten, zu reflektieren", betont Frederike Krüger. "Wir können in die handelnden Personen hineinschauen."
Adams vergrößere bestimmte Momente, er zeige das Kaleidoskop eines unmoralischen Experiments, das aus der Not heraus entstand. Die Dramaturgin erinnert daran, dass Oppenheimer und etliche seiner Mitstreiter jüdischer Herkunft waren, dass die Tests 1942 mitten im Zweiten Weltkrieg begannen – mit der Gefahr des Nationalsozialismus vor Augen. "Bis zur Zündung der ersten Bombe wussten sie nicht, wie weit die Sprengkraft reichen würde. Das ist mit Fortschrittseifer allein nicht zu erklären. Da kamen auch existentielle Fragen ins Spiel. Und sie wussten: Die ganze Welt schaut auf sie."
Regisseur Frank Hilbrich und Bühnenbildner Volker Thiele werden die Forscher entsprechend in einer großen Vitrine präsentieren und zeitweilig in Zeitlupe agieren lassen – das Versuchslabor in der Wüste New Mexicos als Experiment am Menschen. Sänger und Chor spielen dicht am Publikum, das Orchester sitzt auf der Bühne. "Es ist neuartige Musik, aber wenn man sich darauf einlässt, ist sie sehr zugänglich", bemerkt Krüger. "Adams steht ganz in der amerikanischen Tradition, es gibt Elemente von Film-, Pop- und elektronischer Musik, dazu die flirrende Minimal Music mit dem großen Orchester."
Wie schnell man ausblende, welche Nachteile politische und wirtschaftliche Interessen für die Menschen und die Natur auf lange Sicht hätten, sei ein wichtiges Thema bei Adams. Bis heute rede man etwa kaum über die indigene Bevölkerung, die für den Bau des Atomforschungsgeländes in Los Alamos ihr Land verlassen musste. "Mit der Atombombe wurde eine Bestie entfesselt, der man bis heute nicht Herr geworden ist", stellt Frederike Krüger fest. ",Doctor Atomic' macht klar, wie gefährlich es ist, wenn Wissen zur Währung wird."