Frau Lison, warum bleibt die Stadtbibliothek Bremen am Sonntag zu?
Barbara Lison: Wie alle anderen deutschen Stadtbibliotheken dürfen wir am Sonntag nicht aufmachen. Das Bundesarbeitszeitgesetz verbietet es grundsätzlich, an Sonntagen zu arbeiten. Damit das Leben in Deutschland weitergeht, gibt es eine lange Ausnahmeliste, auf der die Stadtbibliotheken nicht aufgeführt sind.
Arbeiten dürfen beispielsweise Busfahrer, Schwimmmeister, Kellner oder Ärzte, aber auch Mitarbeiter Wissenschaftlicher Bibliotheken. Warum?
Das Gesetz stammt aus den 1950er-Jahren, die Anpassung des Gesetzes an die gesellschaftlichen Realitäten ist immer nur stückchenweise erfolgt, und bei Bibliotheken beschreibt es das Heute überhaupt nicht mehr. 1950 war eine Bibliothek ein Ort, zu dem ich gehe, um ein Buch mitzunehmen. Da hat der Gesetzgeber sich sicher gedacht: Das reicht, wenn das an Werktagen geschieht. In Wissenschaftlichen Bibliotheken gibt es dagegen Werke, die man nicht ausleihen kann. Daher dürfen diese auch sonntags öffnen, damit Studenten beispielsweise Semesterarbeiten schreiben können.
In der Stadtbibliothek Bremen kann man auch nicht alles ausleihen. Werke aus der Krimibibliothek beispielsweise nicht.
Die Krimibibliothek ist in der Tat ein Präsenzbestand, da kann man keine Bücher mitnehmen. Der Bereich ist aber eigentlich auch gar kein klassischer Bereich einer Stadtbibliothek.
Was ist denn die klassische Stadtbibliothek?
In den 50er- und auch noch 60er-Jahren, aus denen das Gesetz stammt, waren das wortwörtlich Theken: Man nahm ein Buch mit und gab ein anderes ab. Der Nutzer hat häufig kein einziges Buch zu Gesicht bekommen, die Bibliothekarinnen haben ihm das geholt, was er ausleihen wollte.
Sie haben keine Theke mehr, und die Menschen können sich die Medien, die sie ausleihen oder anschauen möchten, längst selbst holen. Dann müsste die Gesetzeslage sich eigentlich anpassen, oder?
Der Deutsche Bibliotheksverband hat eine klare Position, die lautet: Das Gesetz muss geändert werden. Das klingt übrigens immer so umfassend, dabei muss gar nicht das ganze Gesetz geändert werden, es müssen nur 28 Buchstaben gestrichen werden. Dann steht auf der Ausnahmeliste nicht mehr der Begriff „wissenschaftliche Bibliotheken mit Präsenzbestand“, sondern nur noch „Bibliotheken“. Das würde legitimieren, dass wir öffnen dürfen. Es heißt gleichzeitig nicht, dass wir öffnen müssen. Die Bibliotheken müssen endlich mit anderen öffentlichen Angeboten wie Schwimmbädern, Museen und Theatern gleichgestellt werden, bei denen das auch so geregelt ist. Danach greift dann der ganz normale Prozess der Mitbestimmung. Im Moment könnte ich beim Personalrat der Stadtbibliothek gar keinen entsprechenden Antrag stellen, der nicht sofort mit dem Hinweis auf die Unvereinbarkeit mit dem Arbeitszeitgesetz abgelehnt würde.
Wie ist die Stimmung bei Ihren Mitarbeitern?
Es gab 2012 ein befristetes Projekt mit der Sonntagsöffnung, dazu hatte uns die Bremische Bürgerschaft beauftragt. Wir haben an sechs Sonntagen aufgemacht, um zu schauen: Kommt da überhaupt jemand? 20 Beschäftigte haben sich auf freiwilliger Basis beteiligt. Von diesen 20 haben 19, als wir sie nach Ihren Erfahrungen befragt haben, gesagt, sie würden das erneut machen. Zwar sei die freie Zeit am Wochenende dann eingeschränkt, aber sie haben andere Vorteile für sich gesehen.
Welche?
Sie haben ihre Arbeitsumgebung am Sonntag als entspannter und lockerer empfunden als an den Werktagen. Und die vielen Kunden, die dieses Angebot genutzt haben, haben sehr positiv auf sie reagiert. Ich denke, es findet ja grundsätzlich ein Wandel in der Gesellschaft statt. Die Menschen nehmen sonntags Dienstleistungen in Anspruch, da sind sie dann auch eher bereit, selbst zu arbeiten – selbstverständlich bei tariflichem Freizeitausgleich und Zuschlägen. Daher sehen einige vielleicht auch Vorteile für sich in dieser Möglichkeit. Aber das Bundesarbeitszeitgesetz ist die große Mauer, die im Moment nicht niedergerissen werden kann.
Bremen hat 2011 mit anderen Bundesländern einen Antrag im Bundesrat unterstützt, um diese Mauer ins Wanken zu bringen.
Das war im Bundesrat leider nicht mehrheitsfähig. Und es gibt noch ein weiteres Problem. Das Bundesverwaltungsgericht hat eine Ausnahmeregelung in Hessen gekippt, mit dem Hinweis auf das Bundesgesetz. Darauf berufen sich jetzt viele Politiker, die gegen die Sonntagsöffnung sind. Dabei ist der zentrale Punkt eher der, dass man geltendes Recht natürlich immer in die eine oder die andere Richtung verändern kann. Deswegen gibt es keinen Grund, im Parlament nicht darüber zu sprechen – die Gesetze werden immer noch dort gemacht und nicht von den Gerichten.
Was müsste also geschehen?
Es müsste im Bundestag eine Mehrheit für die Änderung des Arbeitszeitgesetzes geben; man braucht ja keine großartige Neuformulierung, um diese 28 Buchstaben herauszustreichen. Das Gesetz wird übrigens sowieso fortlaufend angepasst, zuletzt im Juni 2017 – da gab es eine Änderung für die Bäcker. Man hätte da auch gleich eine Lösung für die Bibliotheken beschließen können. Das Bundesarbeitsministerium hat unserem Verband allerdings auf Anfrage mitgeteilt, man sehe dafür keinen Bedarf.
Ist Ihnen bekannt, auf welchen statistischen Erhebungen diese Einschätzung fußt?
Das weiß ich auch nicht. Es gibt keine repräsentative bundesweite Umfrage oder statistische Erhebung dazu, es gibt nur einzelne Erfahrungsberichte, von unserer Aktion beispielsweise und die ist ja sehr gut angenommen worden. Und es wird einen Bericht aus Berlin geben. Die dortige Zentralbibliothek macht an Sonntagen rund um die Uhr Veranstaltungen; dann kann sie öffnen. Es gibt noch ein weiteres Beispiel aus Mönchengladbach, da hat die Bibliothek ebenfalls sonntags geöffnet, ohne Fachpersonal, nur mit Sicherheitskräften. Das hat mal begonnen als Teil eines EU-Projekts, dann haben die Kollegen das einfach fortgeführt, weil sehr viele Besucher kamen und noch immer kommen.
Wäre das ein Modell für Bremen?
Dafür ist unsere Stadtbibliothek zu groß. In Mönchengladbach handelt es sich um eine Zweigstelle. Laut meinen Kolleginnen dort kommen vor allem Menschen mit Migrationshintergrund, Familien, Singles. Das deckt sich mit den Erfahrungen, die wir bei unseren Sonntagsöffnungen gemacht haben. Bei einer Umfrage unter den Kunden haben 25 Prozent gesagt: „Ich bin dann nicht allein, ich komme so sonntags unter Menschen“. Da erfüllen wir klar eine soziale Funktion.
Wenn es nicht reicht, die Sonntagsöffnung nur mit Sicherheitskräften zu stemmen, was wäre dann mit einem Modell, in dem Sie zudem Ehrenamtliche oder einen Freundeskreis einbeziehen?
Das wäre eine Idee, aber leider gibt es noch eine weitere Hürde: Das Aufmachen an sich ist schon ein Problem. Wir gelten als Institution, deren Öffnung an Sonn- und Feiertagen von Gesetzen abhängt.
Muss man das verstehen können?
Eigentlich nicht.
Also bleibt alles so, wie es ist, egal, was Ihre Kunden wünschen?
Ich hoffe nicht. Ich werde da nicht locker lassen, so viel ist klar, ich bin ja auch nicht die Einzige in Deutschland, die sich für die Möglichkeit einsetzt, an Sonntagen zu öffnen. Wir haben einen Verband, der die Bibliotheken vertritt, und wir haben einen Verband, der die Bibliotheksbeschäftigten vertritt. Und dieser zweite Verband, eine kleine Spezial-Gewerkschaft, hat inzwischen seine Position geändert und befürwortet ebenfalls eine Gesetzesänderung. Das finde ich wirklich großartig. Eines muss man ja auch sehen: Selbst wenn das Bundesarbeitszeitgesetz geändert werden sollte, heißt das ja nicht automatisch, dass immer sonntags geöffnet werden muss.
Sie spielen auf Regelungen bei unseren niederländischen Nachbarn in Groningen an.
Genau. Die Bibliotheken in Groningen haben nur in der Zeit von Oktober bis April sonntags geöffnet und begründen das damit, dass man bei erwartbar schönem Frühlings- und Sommerwetter dann doch eher in die freie Natur geht. Ich könnte mir für Bremen beispielsweise vorstellen, dass wir während der Sommerferien sonntags nicht öffnen. Das Spektrum, wie man das gestalten könnte, ist bunt.
Dazu passt die Idee der „Open Library“, die aus Dänemark kommt und auch in den Zweigstellen in Vegesack und der Vahr ausprobiert werden soll. Kunden können mit ihrer BibCard und nach Eingabe eines Codes Türen öffnen und Bücher ausleihen, ohne dass Personal anwesend ist.
Wenn ich über so viele technische Mittel in einer Bibliothek verfügen könnte, dass es ein Leichtes ist, ohne Personal einzusetzen zu öffnen, frage ich mich wirklich nach dem Grund, warum wir das sonntags nicht dürfen. Ein Einwand von Seiten der Beschäftigtenvertretung lautet oft: Wir haben am nächsten Tag mehr Arbeit, weil mehr auf- und weggeräumt werden muss. Da werden manchmal viele Gründe gefunden, Schwierigkeiten zu formulieren. Aber man kann diese Schwierigkeiten meistens lösen, da ist dann Kreativität gefragt.
Wie sehen die Öffnungszeiten der Stadtbibliothek im Jahr 2028 aus?
Ich bin fest davon überzeugt, dass auch die Politik den Wandel, was Ansprüche von Menschen an Institutionen angeht, nicht dauerhaft ignorieren kann. Wenn nicht, dann kommt irgendwann die Lösung, die Bibliothek komplett durch Technik zugänglich zu machen. Und zwar natürlich auch sonntags.
Das Gespräch führte Iris Hetscher.
Zur Person:
Barbara Lison leitet die Stadtbibliothek Bremen seit 1992, zuvor hat sie die Bibliothek in Oldenburg geleitet. Die 61-Jährige wurde in Oberschlesien geboren und hat in Bochum Slawistik, Geschichte und Erziehungswissenschaften studiert.
Sonntagsöffnung: Berlin ist am Zug
Der Berliner Senat hat im August 2011 beim Bundesrat eine Entschließung zur Sonntagsöffnung von kommunalen Bibliotheken eingebracht. Der Antrag wurde federführend an den Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik verwiesen. Sowohl Hamburg als auch Bremen haben den Antrag unterstützt, dieser wurde aber im September 2011 nach einer Probeabstimmung bis zum Wiederaufruf vertagt. Diesen Wiederaufruf kann nur das Land, das den Antrag eingebracht hat, unternehmen, also Berlin. Berlin behalte sich dies vor, aktuell sei aber nichts geplant, hat die Bremer Kulturbehörde erfahren. Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz (SPD) hält es für "grundsätzlich wünschenswert, dass der Zugang zu Büchern und anderen Medien für die Nutzer möglichst einfach gestaltet wird." Da die Gesetzeslage eine Sonntagsöffnung der Bibliotheken derzeit nicht zulasse, unterstütze man die Stadtbibliothek bei ihren Bemühungen, mit der "Open Library" für längere Öffnungszeiten zu sorgen.