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Fentanyl auf dem Vormarsch Die tödliche Beimischung

Weil Heroin knapp wird, mischen Hersteller oft das Opioid Fentanyl bei. Experten fordern, auf die Gefahren für Drogenabhängige schnell zu reagieren; beispielsweise durch den Einsatz eines Nasensprays.  
22.06.2024, 05:00 Uhr
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Von Björn Lohmann

Man kann über sie sagen, was man will: Im Kampf gegen den Anbau von Schlafmohn sind die Taliban in Afghanistan konsequent. Inzwischen gelten rund 95 Prozent aller Felder als zerstört. Sie waren die wichtigste Quelle für europäische Heroinhändler, denn aus der Milch des Schlafmohns wird Opium und damit auch Morphin und Heroin gewonnen.

Auf den ersten Blick könnte es eine gute Nachricht sein, wenn der Nachschub einer Droge zusammenbricht. Doch eine Heroinabhängigkeit wird nicht durch Heroinknappheit geheilt. Die Nachfrage bleibt unvermindert hoch. Eine gefährliche Antwort der Heroinhersteller auf diese Entwicklung sind synthetische Opiate – zur Unterscheidung als Opioide bezeichnet –, allen voran Fentanyl.

Wie wirken Opioide?

Opioide sind eine wichtige Errungenschaft der Schmerzmedizin und Anästhesie. Sie docken an natürliche Rezeptoren im Gehirn an und beeinflussen die Schmerzentfaltung. Der Pharmakologie ist es gelungen, diese Moleküle so zu designen, dass sie besonders gut und lange an diese Rezeptoren binden. Dadurch ist die Wirkung um ein Vielfaches höher als bei natürlichen Opiaten.

Was richtig dosiert Krebspatienten und Menschen mit chronischen Schmerzen Erleichterung verschafft, ist beim Missbrauch als Droge jedoch gefährlich: „Überdosiert dämpfen Opioide das Zentrale Nervensystem, mindern das Bewusstsein und stoppen das Signal, das die Atmung auslöst“, erklärt Oliver Pogarell, Suchtexperte am LMU-Klinikum München. Betroffene verlieren das Bewusstsein und sterben.

Das zweite Problem ist, dass Opioide bei längerem Konsum abhängig machen. Genau das ist in den USA in den 1990er-Jahren passiert. Dort haben Ärzte den Wirkstoff Oxycodon lange Zeit als Schmerzmittel verschrieben, weil der Hersteller über die Höhe des Suchtpotenzials getäuscht hatte. Nun, nachdem diese Praxis in den 2010er-Jahren geändert wurde, sind zahlreiche Menschen süchtig und greifen in ihrer Abhängigkeit nach illegalen Opioiden, darunter Fentanyl. Das nimmt Schmerzen und gibt ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit.

Warum ist Fentanyl so gefährlich?

Aufgrund einer anderen Verschreibungspraxis existiert dieses Problem in Deutschland so nicht. Dennoch meldet der Europäische Drogen- und Suchtbericht, dass in 20 EU-Ländern illegale Opioide in großem Umfang auf dem Markt verfügbar sind. Hierzulande handelt es sich meist um Beimischungen zu Heroin. Welche Rolle dabei Fentanyl spielt, hat die Deutsche Aidshilfe (DAH) im vergangenen Jahr untersucht. Mithilfe eines Schnelltests analysierten die Fachleute bundesweit in 17 Drogenkonsumräumen, ob das dort konsumierte Heroin Fentanyl enthielt. Das Ergebnis: In 3,6 Prozent der 1401 untersuchten Proben ließ sich Fentanyl nachweisen.

„Fentanyl ist ungefähr 100 Mal so wirksam wie Heroin“, erklärt Henning Schmidt-Semisch vom Institut für Public Health an der Universität Bremen. Es ist also viel schneller ungewollt überdosiert. „Menschen, die illegal Heroin kaufen, wussten noch nie, ob da fünf oder 50 Prozent Heroin drin sind. Aber Beimischungen wie Fentanyl sind eine Riesengefahr.“

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Wohin es führen kann, dass Fentanyl selbst in einfachen Drogenlaboren günstig hergestellt werden kann und das verknappte Heroin immer teurer wird, lässt sich in Kanada beobachten. Dirk Schäffer, Drogenreferent der Deutschen Aidshilfe, berichtet, dass Fentanyl dort Heroin fast vollständig vom Markt verdrängt hat. In der Folge seien dort alleine von Januar bis September 2023 6000 Menschen an Opioiden verstorben. „Für den üblichen Konsumenten ist Fentanyl überhaupt nicht mehr dosierbar“, sagt Schäffer. Noch ist die Situation in Deutschland weniger dramatisch. Hier starben 2022 83 Menschen nachweislich unter Einfluss von Fentanyl, auch wenn die wahre Zahl höher liegen dürfte, da bei Drogentoten oft kein toxikologisches Gutachten erstellt wird.

Immerhin gibt es folgende Möglichkeiten, Menschen bei einer Fentanyl-Überdosierung zu retten, wie Mediziner Pogarell erläutert: Sofort den Rettungsdienst rufen und mit Wiederbelebungsmaßnahmen wie der Herzdruckmassage beginnen. Wer darin geübt ist, kann zusätzlich durch Beatmung die Sauerstoffversorgung sicherstellen, bis der Rettungsdienst übernimmt; und das Nasenspray Naloxon verabreichen.

Naloxon bindet unglaublich stark an die Opiodrezeptoren im Gehirn und verdrängt dort Fentanyl und andere Opioide, hat aber keine der Wirkungen der Drogen. Selbst haben Betroffene keine Chance, das Nasenspray noch anzuwenden – zu schnell erfolgt der Übergang von gewünschter zu tödlicher Wirkung.

Wie lassen sich Betroffene besser schützen?

In den vergangenen drei Jahren wurden in einem bundesweiten Modellprojekt bereits mehr als 800 Personen aus 100 Städten darin geschult, Nutzern ihrer Einrichtungen eine kurze Information über die Rolle von Naloxon zu geben und anschließend das Nasenspray zu überreichen. Doch außerhalb des Modellprojekts ist die Situation kompliziert, wie Schäffer erläutert: „Naloxon muss immer vom Arzt verschrieben werden. Polizei oder Mitarbeiter der Aidshilfe oder in Einrichtungen der Drogenhilfe sind derzeit nicht befugt, das Medikament zu besitzen.“ Seiner Ansicht nach sollten auch Menschen in Substitutionsbehandlung, die also vom Arzt Heroinersatz erhalten, Naloxon immer bei sich führen. „Diese Leute bewegen sich in Szene-Zusammenhängen. Da wäre es am richtigen Platz, um Leben zu retten.“

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Public-Health-Forscher Schmidt-Semisch fordert außerdem, die Substitution mit Methadon und die Verschreibung von Diamorphin auszuweiten (siehe Infokasten), damit Abhängige gefahrlose Substanzen konsumieren können. Weiterhin sollte es mehr Drogenkonsumräume geben, denn dort ist bei einer Überdosis sofort Hilfe vor Ort. Nicht zuletzt wünscht sich Schmidt-Semisch, dass der Fentanyl-Schnelltest größere Verbreitung findet, damit Konsumenten selbst sicherstellen können, dass ihr Heroin keine Beimischung enthält. Denn – da sind sich alle Fachleute einig – Fentanyl wird auch in Deutschland künftig immer stärker in den Markt drängen.

„Wir sind jetzt in der einmaligen Situation, Dinge einzurichten, bevor es passiert“, betont DAH-Drogenexperte Schäffer. „Das war in anderen Ländern, die von der Entwicklung überrannt wurden, nicht möglich.“

Zur Sache

Raus aus den Drogen?

Die meisten Drogenabhängigen sind erst durch eine Krise in die Sucht geraten – die dann oft die Krise weiter verschärft. Diese Menschen sind krank und haben ein Recht auf Hilfe. Es gibt zahlreiche Personen, denen in einer Suchtklinik der Heroinentzug gelingt, doch der ist mit Schmerzen, Krämpfen, Kreislauf- und Magen-Darm-Problemen verbunden, weshalb viele Betroffene ihn nicht durchhalten. Eine Alternative sind Diamorphinambulanzen, von denen es in Deutschland jedoch nur ein gutes Dutzend gibt. Dort erhalten opioidabhängige Menschen legales Heroin, was die soziale wie körperliche Stabilisierung fördert. Verbreiteter ist die Substitution durch das Opioid Methadon, das die Entzugssymptome verhindert und ein Ausschleichen erleichtert. In Deutschland sind derzeit rund 82.000 Menschen in Substitutionsbehandlung.

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