Frau Khalil, was versteht die Neuropsychologie unter Kreativität?
Radwa Khalil: Der Akt der Kreativität beinhaltet die Fähigkeit, das nicht Greifbare zu visualisieren, das in vielen Formen ausgedrückt werden kann, darunter Kunst, Literatur, Wissenschaft, Musik, Architektur und mehr. Diese Aktivität kann die eigenen Fähigkeiten herausstellen und wird von persönlicher Leidenschaft angetrieben. In solchen Situationen sind mehrere Faktoren am Werk, einschließlich Neugier, Antrieb und einem erhöhten Level an Erfahrung. Dementsprechend könnte kreatives Denken mit spezifischen Gehirnmechanismen verknüpft sein, die es repräsentieren.
Haben Sie ein Beispiel?
Wenn jemand Musik hört, zeigen Hirnaufnahmen von Individuen klar unterscheidbare Aktivitätsmuster in unterschiedlichen Hirnregionen. Mehrere Studien legen nahe, dass Musikhören förderlich ist für Kognition, motorische Fähigkeiten und die Erholung nach einer Hirnverletzung. Man spricht bei diesem Ansatz von Musiktherapie.
Was wissen wir bislang über Kreativität?
Kreativität kann beschrieben werden als der Prozess, abstrakte und fantasievolle Ideen in greifbare, sichtbare Form zu bringen. Das gibt uns die Gelegenheit, die Welt aus einer einzigartigen Perspektive zu sehen, verborgene Muster aufzudecken und Verbindungen zwischen scheinbar zusammenhanglosen Ereignissen herzustellen – mit bemerkenswerten Resultaten. Es bringt Licht in bislang unbekannte Informationen und bietet frische Einblicke in bislang Übersehenes. Die Erfahrung eines solchen verstärkten Bewusstseins kann daher als Quell der Freude beschrieben werden.
Haben alle Formen der Kreativität den selben Ursprung?
Kreativität ist ein hochkomplexes Phänomen, das ein weites Spektrum an Ausdrücken, Farben und Formen umspannt. Sie ist daher recht schwierig zu greifen und umfassend zu beschreiben. Die Schwierigkeit resultiert aus den vielen Domänen der Kreativität, wie musikalischer, literarischer, visueller, kinästhetischer und wissenschaftlicher Kreativität, die zu ihrer vielfältigen Natur beitragen. Diese Domänen haben einen hohen Grad an Wechselwirkungen und Quervernetzungen. Zum Beispiel verkörpern Architektur und kreatives Design eine harmonische Verschmelzung von künstlerischem Ausdruck und wissenschaftlicher Innovation. Unterschiedliche Theoretiker haben zahlreiche Aspekte der menschlichen Kreativität abgegrenzt, darunter Kunst, Wissenschaft, Humor, spontane und gewollte Kreativität, Problemlösung und Ausdruck. Von einem neurowissenschaftlichen Standpunkt aus ist es selten, eine Theorie zu finden, die hirnbasierte Unterscheidungen zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Kreativität vorschlägt. Wie sich die Formen der Kreativität, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede in ein geschlossenes Gerüst bringen lassen, ist Gegenstand anhaltender Debatten.
Wie kann Kreativität therapeutisch genutzt werden?
Der potenzielle Nutzen von Kreativitätstherapien in Kunst, Literatur und Musik kann am Beispiel des Konzepts der Hirnplastizität oder Neuroplastizität (siehe Infobox, Anm. d. Red.) veranschaulicht werden. Kreativität spielt eine bestechende Rolle im Gehirn, indem es die Hirnplastizität in gesunden Individuen fördert – etwa bei musikalischer, kinästhetischer und visuell-räumlicher Kreativität – und bei jenen, die von Krankheiten wie Schlaganfall oder Demenz betroffen sind.
Wie hängen Kreativität und Hirnplastizität zusammen?
Die Forschung zur Selbstheilung und der Fähigkeit des Gehirns, mit Störungen zurecht zu kommen, könnte unser Verständnis der Psychologie und der Hirnfunktion enorm verbessern. Moderne Bildgebungstechnologien wie die funktionelle Magnetresonanztherapie und die Elektroenzephalografie haben wertvolle Einblicke in die Phänomene der Hirnplastizität geliefert. Sie beschreibt die dynamischen Änderungen in den neuralen Pfaden des Gehirns. Diese Änderungen können auf unterschiedlicher Ebene erfolgen, makroskopisch bis mikroskopisch, also auf Ebene der Synapsen. Die Hirnplastizität wird von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst, darunter Verhaltensänderungen – beispielsweise Training –, Reaktionen auf die Umwelt – reich oder arm an Reizen – und physiologische Prozesse wie Alterung oder Hirnverletzungen. Sie ist Teil der bemerkenswerten Fähigkeit des menschlichen Gehirns, sich anzupassen und zu wandeln in Reaktion auf persönliche Erfahrungen.
Wird dieses Wissen heute schon angewandt?
Neuroplastizität und kognitive Funktionen können kurz- und langfristig durch körperliche Übungen und Musiktraining gefördert werden. Bildgebende Studien haben einen Umbau im motorischen und auditorischen Kortex bei professionellen Musikern beobachtet. Neurologen und Psychiater bemühen sich, dieses Potenzial des Hirns zu fördern, um dessen Erholung zu helfen oder das Voranschreiten von Erkrankungen zu verlangsamen. Kreativität könnte ein wertvolles Werkzeug bei diesen Interventionen sein und zu effektiveren Therapien führen.
Das Gespräch führte Björn Lohmann.