Tomiko Higa war sieben Jahre alt, als sie nahe der Schlachtfelder auf Okinawa während des Zweiten Weltkrieges von ihren Eltern getrennt wurde. Um sich selbst zu schützen, bastelte sie sich eine weiße Flagge. Der amerikanische Soldat John Hendrickson hielt das kleine Mädchen mit der Flagge 1945 in einem Foto fest.
In der Weserburg ist Tomiko Higa nun in 3000-facher Ausführung zu sehen. So viele kleine Plastikfiguren des Mädchens hat der Künstler Fernando Sánchez Castillo nämlich ins Museum gestellt. Und diese dürfen vom Besucher sogar mit nach Hause genommen werden, wenn er dafür einen Zettel mit seinen Gedanken zu der Arbeit an der Museumswand hinterlässt. "The Girl with the White Flag", lautet der Titel der Arbeit, der Künstler ist bekannt dafür, Museumsbesucher zur Teilhabe einzuladen.
Castillo ist einer von insgesamt 20 Künstlern, die aktuell mit Ihren Werken - Installationen, Malerei, Foto- und Videoarbeiten - in einer neuen Ausstellung in der Weserburg zu sehen sind. Die Schau rückt ein prominentes Thema in den Mittelpunkt: Flaggen. Alle gezeigten Arbeiten sind innerhalb der vergangenen 20 Jahre entstanden, und alle setzen sich auf die eine oder andere Art und Weise mit Flaggen, ihrer Bedeutung, ihrer Macht, ihrem Einsatz auseinander. Drei Höhepunkte der Ausstellung.
Cauleen Smith "Territory of the Green Ray" (2022)
Wer das Kunstwerk von Cauleen Smith sehen will, muss dafür nicht einmal ins Museum gehen: Es befindet sich auf dem Dach der Weserburg. Die Künstlerin hat eine Flagge extra für Bremen entwickelt - als Teil einer von ihr erschaffenen Reihe abstrakter Flaggen. Sie alle stehen für Orte, Bereiche, Momente, die nicht in Besitz genommen werden können. Die Flagge auf der Weserburg steht für den kurzen Moment, wenn die Sonne im Meer versinkt. Dann kann man, ganz kurz, ein grünes Leuchten auf dem Wasser sehen.
Ahmet Ögüt "History Otherwise" (2019)
Ahmet Ögüt hat einen großen, perspektivisch verzerrten Teppich geschaffen (Titel: "History Otherwise: Ottoman Socialist Hilmi and Ottoman Women's Rights Defender Nuriye"), der auf den ersten Blick den Eindruck hinterlässt, es würde ein großes Loch im Boden der Weserburg klaffen. Wer hindurch guckt, sieht ein Wohnzimmer im osmanischen Stil. Darin sitzt Nuriye Ulviye Mevlan Civelek und hält die Flagge des Osmanischen Vereins zur Verteidigung der Frauenrechte in der Hand. Sie gründete die erste feministische Zeitschrift des Landes, in der sie das erste Foto einer unverschleierten muslimischen Frau mit Namen veröffentlichte. Neben ihr steht Hüseyin Hilmi Bey, Gründer der Osmanischen Sozialisistischen Partei. Die Arbeit ist eine Verbeugung vor den mutigen Kämpfern gegen ein autokratisches System - ein Thema, das auch heute noch und wieder aktuell ist.
Nasan Tur "Once upon a time" (2011)
Übersetzt heißt die Arbeit von Nasan Tur "Es war einmal", so wie man für gewöhnlich Märchen einleitet. Seine Arbeit zeigt acht Flaggen, von Staaten, die es heute nicht mehr gibt. Die Flaggen der DDR, der Sowjetunion, Jugoslawiens und von Biafra, Dahomey, Khmer, Mandschuko und Rhodesien. Einige von ihnen existierten nur wenige Jahre. Die riesigen Flaggen hängen zusammen schlaff von einem gemeinsamen Punkt an der Museumsdecke herab, sodass sie den Boden berühren, und sie symbolisieren "Vergänglichkeit und Instabilität nationaler Zuschreibungen und Grenzziehungen", so Janneke de Vries in der begleitenden Ausstellungsbroschüre.

Die acht Flaggen, die Nasan Tur unter dem Titel "Once upon a time" zusammengetragen hat, gehören zu Staaten, die es heute nicht mehr gibt.
Auch sonst gibt es in der Ausstellung, die unter dem Titel "What is the Proper Way to Display a Flag" (Was ist die richtige Art, (eine) Flagge zu zeigen?) zu sehen ist, viel zu entdecken: Es gibt gestickte Arbeiten, ein Video mit Fußball-Bezug, nachgestellte Szenen von Demonstrationen, eine Flagge aus Text und Klebeband und vieles mehr.