Es ist exakt 21 Uhr, als Thorsten Wingenfelder seiner Gitarre eine Pause gönnt und einen Gruß in die Nachbarschaft schickt. Genauer gesagt in Richtung Use Akschen 91, seit zwölf Jahren Heimat für 400 Künstler, darunter viele Bands, und außerdem mit 4000 Quadratmetern genutzter Fläche das zweitgrößte Künstlerhaus Deutschlands. Doch diesem Projekt droht nun das Aus wegen eines abstrus anmutenden Nachbarschaftsstreits (wir berichteten), auch Bauvorschriften spielen eine Rolle. Wingenfelder geißelte das in überaus deutlichen Worten und rief dazu auf, eine Petition zum Erhalt des Künstlerhauses zu unterschreiben.
"Vielleicht proben da gerade vier junge Vögel, die in 40 Jahren dann vielleicht hier auf der Seebühne stehen", sagte der Gitarrist mit Blick auf die lange Historie seiner eigenen Band. Und grüßte dann Tonstudio-Betreiber Timo Hollmann, der sich für den Erhalt von Use Akschen 91 ins Zeug legt: "Heute sind wir alle Timo Hollmann!" Lauter Applaus von den 4000 Menschen vor der Bühne – auch für solche klaren Ansagen direkt aus dem Bauch heraus lieben die Fans diese Band.
Diese Schnörkellosigkeit passt exakt zu der Musik, für die Fury in the Slaughterhouse, inzwischen nur noch knapp Fury genannt, seit 1987 bekannt ist. Fury, das heißt: Gitarren- und melodielastiger, druckvoller Rock ohne Fisimatenten, gepaart mit der eindringlichen Stimme von Frontmann Kai Wingenfelder, dem Bruder von Gitarrist Thorsten. Die beiden bilden mit dem zweiten Gitarristen Christof Stein-Schneider das Epizentrum der Band. Rainer Schumann am Schlagzeug und Christian Decker am Bass sorgen für ein verlässliches rhythmisches Fundament, Gero Drnek an Gitarre, Mandoline und Keyboards für die i-Tüpfelchen auf einem satten Sound. Gemeinsam mit den Scorpions sind Fury übrigens ein echter musikalischer Exportschlager aus Hannover: Weltweit hat der niedersächsische Sixpack mehr als vier Millionen Alben verkauft. Bis jetzt. Denn sie sind noch lange nicht fertig.

Mit Rock'n'Roll kann man nicht früh genug beginnen: Fanschild beim Fury-Konzert.
Warum auch? Längst müssen sich Popmusiker jenseits der 60-Jahres-Grenze nicht mehr dumm fragen lassen, ob sie denn nicht langsam ans Altenteil dächten. Im Publikum findet sich dementsprechend am Sonnabend die bei Konzerten altgedienter Bands bewährte und sehr entspannte Mischung aus Popmusikfans unterschiedlicher Generationen. Da gibt es die, die bei Fury an den ersten Kuss auf einer Party Ende der 1980er-Jahre zurückdenken. Aber auch ganz junge: "Hallo Kai! Ich bin Ella, 7 Jahre und bin dein größter Fan!" steht auf einem Pappschild, und Wingenfelder winkt sichtlich gerührt in Richtung Tribüne. Wer braucht hier schon Taylor Swift?
Zarte Akustikversion
Trotzdem gehört augenzwinkerndes Kokettieren mit dem Alter natürlich zur Show, zwei leicht abgeschabte Ledersessel stehen auf der Bühne, in denen Kai Wingenfelder ab und an Platz nimmt. Los geht’s aber für alle im Stehen und gleich in die Vollen mit "Protection" vom 2004er-Album "Nimby", gefolgt von noch mehr Up-Tempo bei "Letter To Myself" von "Now", 2021 erschienen. Die Band hüpft hin und her zwischen den Jahren, es gibt einen klug zusammengestellten Querschnitt mit Songs aus ihren 14 Alben. Und so geht es Schlag auf Schlag, von "Hang the DJ" vom Debütalbum 1987 – dazu passend erinnern sich die Furys an ihren ersten Auftritt in Bremen im Römer – über "The Land Of Milk And Honey" bis zu "Why Worry?". Das Publikum tanzt, das Publikum singt, klatscht mit, reckt die Hände in die Höhe.
Und dann spielen sie einen ganz neuen Song von dem Album, das dieses Jahr erscheinen soll. "Sorrowland", Mitte Mai als Single ausgekoppelt, sei eigentlich eine eher laute Nummer, so Kai Wingenfelder vom Sessel aus. Doch hier und heute bezaubert die Band das Publikum mit einer zarten Akustikversion dieser Ballade über eine unsichere Welt, in der man die Hoffnung nicht aufstecken sollte: "Maybe tomorrow this misery will end" – morgen wird’s vielleicht besser. Die Sorge nicht nur um das eigene Leben und Lieben, sondern auch das der Gesellschaft war sowieso schon immer ein Thema in den klassischen Drei-Minütern der Band. "Sorrowland" besitzt jedenfalls musikalisch wie textlich definitiv Hitpotenzial. Sowieso sind die Furys eine Band, die immer schon Ohrwurmmelodien aus dem Ärmel schütteln konnte.
Von denen spielen sie zum Schluss hin alle, die das Fan-Herz begehrt. Jede Generation hat ihre eigene Bürde zu tragen, und jede Band hat dieses eine, überragende Album. Bei Fury ist es "Mono" von 1993, mit Songs, deren Stil die Band bis heute treu geblieben ist. Es wird dunkler über der Seebühne, und zu einer Videoprojektion, die auch Donald Trump und Elon Musk zeigt, schleudert Wingenfelder dem Publikum "Every Generation Got Its Own Disease" entgegen – wohl wahr.
"When I'm Dead And Gone" singt quasi das Publikum alleine, beim melancholisch versponnenen "Radio Orchid" läuft Kai Wingenfelder durchs Publikum und klatscht ab. "Trapped Today, Trapped Tomorrow" ist eine schön einfach gebaute und dabei derart traurige Nummer darüber, wie schrecklich schief ein ordentliches Leben gehen kann. Es rührt verlässlich zu Tränen und zum Zücken der Handy-Taschenlampe und wird begleitet von einem eher seltenen Gitarrensolo – Applaus für Thorsten Wingenfelder. Dann, natürlich, der Über-Hit: "Won’t Forget These Days", und auch danach kann noch nicht einfach Schluss sein. Ein Stück fehlt noch. "Time To Wonder", inbrünstiger, nachdenklicher Stadionrock schickt das Publikum nach Hause.