Frau Özarslan, „Dil Leyla“ ist Ihr Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg. Warum haben Sie sich entschieden, die Geschichte von Leyla Imret zu erzählen?
Asli Özarslan: Ich habe einen Zeitungsartikel über sie gelesen und war überrascht von ihrer Geschichte. Eine junge Frau, die in einem ähnlichen Alter ist wie ich und die in Deutschland aufgewachsen ist, entscheidet sich, in die Stadt in der Türkei zurückzukehren, aus der sie als Kind vor dem Bürgerkrieg geflohen ist. Das war meine Ausgangsfrage: Wieso macht sie das? Ich fand es interessant, dass sie Bürgermeisterin dieser Stadt ist, aber es hat mich viel mehr fasziniert, dass sie so jung ist und über keinerlei politische Erfahrung verfügt. Ich wollte wissen, ob sie in ihre Aufgabe hineinwächst und ob sie in Cizre klarkommen kann.
Die Stadt ist seit Jahrzehnten geprägt durch den Kurdenkonflikt. Leyla Imret ist also in sehr kaltes Wasser gesprungen, oder?
Allerdings. Deshalb wollte ich ihre Bemühungen zeigen, eine Balance zwischen der türkischen Regierung und den Kurden herzustellen. Als ich dort war, hatte ich den Eindruck, dass sie die Kindheit, die sie selbst in Cizre nicht hatte, für die heutigen Kinder schaffen will. Sie hat Bäume gepflanzt und Parks angelegt; sie wollte Ruhepole schaffen.
Eine Normalität herstellen in einem Ort, an dem es Normalität nicht gibt.
Die Menschen dort möchten einfach einen Alltag haben, und diesen Alltag wollte Leyla Imret ihnen zurückgeben. Dann geht es eben auch mal um das Schlachthaus, das gebaut wird, weil es auf dem Marktplatz riecht, weil die Tiere dort bisher noch traditionell zubereitet werden. Die Menschen dort möchten ein modernes Leben führen, sie möchten, dass die Infrastruktur in ihrer Stadt verbessert wird. Und dafür sind in der Türkei die Bürgermeister zuständig. Leyla hat sich sehr engagiert, viel Kontakt gesucht mit den Menschen, sie war viel unterwegs in der Stadt.
Ihr Film beginnt mit Aufnahmen aus den 1990er-Jahren. Die Stadt feiert das kurdische Neujahrsfest Newroz, dann prügelt die türkische Polizei die Feiernden zusammen. Warum haben Sie diesen Einstieg gewählt?
Genau das hat die Kindheit von Leyla geprägt, das symbolisiert ihre Verbundenheit mit Cizre. Gleich danach sieht man sie, wie sie heute ist und wie sie sich für ihren Heimatort einsetzt.
Ihr Film ist nicht linear erzählt, er springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her. Warum?
Ich wollte zeigen, wie die Vergangenheit in der Gegenwart nachwirkt, deswegen gibt es Archiv-Aufnahmen; die sorgen für die inhaltliche Fallhöhe. Bis heute gibt es keine Basis dafür, wie die Kurden in der Türkei leben könnten. Es gibt so viele Traumata, die sich von Generation zu Generation schleppen. Leylas Mutter hat dasselbe erfahren, was Leyla als kleines Mädchen erlebt hat und jetzt wieder erlebt, und genau das machen die Kinder in Cizre heute erneut durch. Um das zu verdeutlichen, setzt der Film stark auf Beobachtung. So konnten wir die Atmosphäre nachzeichnen, die diese Stadt prägt. Jeder kennt jemanden, der wegen des Konflikts gestorben ist oder der für die PKK kämpft. Auch Leylas Vater hat gekämpft, ihre Beziehung zu ihm zieht sich ja auch durch den ganzen Film. Aber Leyla betont stets den Unterschied zwischen sich und ihrem Vater: Sie steht auf der legalen Seite, sie möchte den Konflikt im Dialog und über Politik lösen.
Inzwischen steht Cizre als Synonym für die schlimmsten Auswüchse des neu aufgebrochenen Konflikts. Es liegt seit 2015 inmitten eines Bürgerkriegsgebiets, es gab Massaker und Zerstörungen; es herrscht Ausnahmezustand. Haben Sie noch Kontakt zu Leyla Imret?
Ich habe jetzt wieder mehr Kontakt zu ihr, nachdem das eine Zeit lang gar nicht ging, während der ersten Ausgangssperre. Zu dieser Zeit sind wir nach Osterholz-Scharmbeck gefahren, zu Leylas in Deutschland lebender Familie. Man sieht, wie ihre Verwandten auf ein Lebenszeichen warten, ähnlich wie wir als Filmteam auch. Wir haben jeden Telefonanruf mitgeschnitten, um abzubilden, was da eigentlich los ist. Nach dem Putsch im vergangenen Jahr ist es dann sehr schwierig geworden, Leyla zu erreichen; sie war inzwischen als Bürgermeisterin abgesetzt worden. Ich kann nur sagen, dass es ihr derzeit gut geht, mehr nicht.

Asli Özarslan.
Sie haben selbst auch einen Migrationshintergrund, ihr Vater ist Kurde, ihre Mutter Türkin. Können Sie Leylas Entschluss nachvollziehen, ins Land ihrer Vorfahren zurückzukehren?
Überhaupt nicht, aber ich habe einen ganz anderen Hintergrund als sie. Ich bin in Berlin aufgewachsen, ich sehe mich als Berlinerin. Ich habe aus meiner Position als Filmemacherin auf sie geschaut, sie hat mich als Charakter interessiert, der Hoffnung verkörpert. Und ich denke, wir sind Leyla nahe gekommen, erst als Bürgermeisterin, dann, als sie abgesetzt wurde, eher als Privatperson, da ändert sich das visuelle Konzept des Films dann. Wobei: Auch nachdem sie abgesetzt wurde, hat sie ständig betont, dass sie weitermachen will. Sie ist noch stärker in ihre Rolle hineingewachsen, das hat mich sehr beeindruckt.