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"Zauberflöte" ohne Rassismus Operntexte im Wandel: Regisseur Frank Hilbrich über Critical Classics

Klassische Operntexte im Wandel: Der Bremer Regisseur Frank Hilbrich spricht über das Projekt "Critical Classics" und die Neuedition von Mozarts Oper "Die Zauberflöte".
24.09.2024, 05:00 Uhr
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Von Sebastian Loskant

Herr Hilbrich, das Projekt "Critical Classics" um den ehemaligen Wuppertaler Intendanten Berthold Schneider hat sich zum Ziel gesetzt, frauenfeindliche oder rassistische Passagen und Tendenzen in Operntexten umzuschreiben, vor allem mit Blick auf ein junges Publikum. Als Erstes wurde "Die Zauberflöte" von Wolfgang Amadeus Mozart neu ediert, dafür zog man auch Sie zurate. Was haben Sie dazu beigetragen?

Frank Hilbrich: Der neue Text, der ja relativ wenige Stellen betrifft, war bereits fertig, als ich dazukam. Ich habe nur eine Szenenreihenfolge geändert, die dem historischen Material nicht entsprach, und einiges kommentiert. Eine zusätzliche Arie für Pamina mit einem eigenen Text im Stil des Librettisten Emanuel Schikaneder etwa, um die Rolle der Frau aufzuwerten, finde ich nicht hilfreich; diesen Vorschlag würde ich nicht aufgreifen. Aber wenn es jemandem hilft und eine Aufführung stärker macht, lasse ich mich überzeugen.

Warum soll man überhaupt in den Text eingreifen?

Wir haben hier ein Stück, das zum Glück noch geliebt wird. Und wir möchten weiter Kinder und Jugendliche mit diesem Stück für Musiktheater begeistern. Das Problem tritt auf, wenn ich heute vor einer Schulklasse ungebrochen singen lasse, "dass ein Schwarzer hässlich ist", oder jungen Mädchen entgegenschleudere "Ein Weib tuet wenig, plaudert viel". Ich kann diese historischen Sätze bringen, wenn ich sie einrahme, wenn ich also zum Beispiel die Geschichte des Schwarzen Monostatos als Geschichte des Rassismus inszeniere. Dann muss ich den alten Text sogar nehmen. An sich aber ist das Ganze bloß ein Nebenstrang der Handlung – unreflektiert stoße ich die Leute damit vor den Kopf.

Sind Umdichtungen nicht Bevormundungen des Publikums?

Es geht darum, wie man mit historischem Material umgeht. Wir haben in Deutschland eine grundgesetzlich verankerte Kunstfreiheit. Die finde ich ganz zentral und ganz wichtig. Es steht niemandem zu, in der Kunst etwas zu ge- oder zu verbieten. Die Herausgeber von "Critical Classics" betonen, dass man den historischen Text der "Zauberflöte" selbstverständlich so spielen kann und soll, wenn man das möchte. Es ist nicht ein Gebot, dass die "Zauberflöte" jetzt anders zu sein hat. Diese Edition trägt vielmehr Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zusammen, die wir bei Aufführungen gemacht haben. Ich finde das Unternehmen spannend.

Wo liegt für Sie als Theaterpraktiker das Kernproblem?

Man muss heute schon die Frage stellen dürfen, ob wir bestimmte Aussagen von der Bühne einfach herabsingen sollen, als ob sie die pure Wahrheit wären. Bei Sängern gab es da schon immer ein Unwohlsein, denn was wir in Live-Aufführungen sagen, hat eine viel unmittelbarere Wirkung als das Lesen eines Textes, von dem ich weiß, er ist von 1791. Deshalb fand ich es auch nicht problematisch, dass man den "Negerkönig" in "Pippi Langstrumpf" zum Südseekönig macht. Warum müssen wir Älteren das, womit wir aufgewachsen sind, für die Wahrheit halten? Warum soll man in der "Zauberflöte" von Weibern und nicht von Frauen sprechen? Fräulein sagt heute auch keiner mehr.

Können Sie Menschen verstehen, die solche Eingriffe für ein Sakrileg halten?

Was mich in der ganzen Debatte schockiert und auch betrübt und ratlos macht, ist der Umstand, dass es Hass und Likes gibt und dazwischen nichts. Ich erlebe Spontanreaktionen mit einem hohen Aggressivitätspotenzial von Leuten, die die neue Edition nicht mal gelesen haben. Da sind wir nicht mehr weit weg von der Steinzeit, dass wir uns mit Keulen den Schädel einschlagen. Diese Kommunikationstendenz setzt sich inzwischen in vielen Bereichen fort, weit bis in bürgerliche Kreise. Damit demolieren wir Kunst und unser gesamtes gesellschaftliches Zusammenleben.

Sie glauben, viele Kritiker der Neuedition haben sie gar nicht gelesen?

Ich würde frech behaupten, dass viele Menschen, die eine Neufassung der "Zauberflöte" für ein Sakrileg halten, ganz oft schon veränderte Fassungen der Oper gesehen haben, ohne es zu merken. Den Satz, "dass ein Schwarzer hässlich ist", habe ich zuletzt vor 30 Jahren auf der Bühne gehört. Auch wenn Sänger am Theater vorsingen, höre ich die Arie immer in Textvarianten, am häufigsten: "weil ein Sklave hässlich ist". In der Neuedition ist vom "Bastard" die Rede. Es geht um Wortnuancen. Als ich "Die Liebe zu den drei Orangen" inszeniert habe, hat sich auch niemand darüber mokiert, dass ich das Wort „Negerin“ gestrichen habe.

In Ihrer aktuellen "Lohengrin"-Inszenierung singt der Chor "Sieg! Heil!" Diese Passagen ändern Sie nicht?

Würde ich die "Sieg! Heil!"-Rufe rausnehmen, würde ich dem Stück seine Historizität und seine Aufführungsgeschichte wegnehmen – die aber muss erkennbar bleiben. Wir wissen, dass Hitler vom "Lohengrin" stark inspiriert wurde. Dazu muss man sich verhalten. Wagner ist nicht verantwortlich für den Faschismus und war kein Nazi, er hat im Gegenteil im "Lohengrin" den Aufstieg einer Führerfigur und ihren Untergang inszeniert. Deshalb sehe ich in diesem Stück eine ausdrückliche Warnung vor jeder Form von Totalitarismus, eine Warnung, dass solche Systeme nicht funktionieren und das anfangs schon ratlose Volk erst richtig in den Untergang stürzen. Der blinde Glaube an Hoffnungsgestalten ist – historisch fast bewiesen und von Wagner geahnt – ein gefährliches Unterfangen.

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Ist Werktreue für Sie ein Maßstab?

Dieser geschlossene Werkbegriff, der mit Richard Wagner aufkam, gilt für viele Stücke nicht. Man muss nur daran denken, wie viele verschiedene Versionen von Mozarts "Così fan tutte" es im 19. Jahrhundert gab, manchmal mit völlig anderer Handlung. Ob bei Händel, Verdi oder Offenbach, viele Stücke sind offene Kunstwerke. Selbst ein Urtext-Forscher wie Nikolaus Harnoncourt hat in Mozarts "Figaro" oder "Idomeneo" nach alter Theaterpraxis kräftig gekürzt. Und es hat offenbar auch niemanden gestört, dass Roman Trekel an der Berliner Staatsoper jahrelang eine dritte Papageno-Strophe zur Kulturpolitik der Stadt gesungen hat: "Der Vogelfänger bin ich noch, doch hat Berlin ein Haushaltsloch." Im Gegenteil, das Publikum jubelte. Die Neuedition der "Zauberflöte" ist ein Vorschlag; die Autoren verlangen nicht, dass sie umgesetzt wird. Aber wenn sich am Ende ein schwarzer Junge oder ein Mädchen im Publikum nicht zurückgesetzt fühlt, scheint sie mir doch sehr hilfreich.

Das Gespräch führte Sebastian Loskant.

Zur Person

Frank Hilbrich (55)

ist seit 2022 Leitender Regisseur und künstlerischer Leiter des Musiktheaters am Theater Bremen. Er stammt aus Lilienthal und hat sein Handwerk in Bremen und Stuttgart gelernt, prägend für ihn war Regisseur Hans Neuenfels. Von 2002 bis 2022 war er freiberuflich an großen Häusern tätig. Von 2013 bis 2022 lehrte er außerdem als Professor an der Universität für Künste Berlin im Studiengang Gesang/Musiktheater.

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