Mindestens 60.000 Mal passiert es im Jahr in Deutschland – ein Mensch erleidet außerhalb eines Krankenhauses einen Herz-Kreislauf-Stillstand. Das zeigen Zahlen des Deutschen Reanimationsregisters für 2020. Dann zähle jede Sekunde, um das Leben der Betroffenen zu retten. Bis ein Rettungswagen eintreffe, dauere es im Schnitt etwa acht Minuten oder länger – in dieser Zeit komme es darauf an, dass umgehend mit der Wiederbelebung begonnen wird.
Immer mehr Städte und Kommunen setzen dabei auf Ersthelfer-Apps: Mithilfe dieser Anwendungen etwa für Smartphones werden Helferinnen und Helfer, die zufällig in der Nähe sind, an den Notfall-Ort gelotst, um möglichst schnell mit der Herzdruckmassage zu beginnen. Auch Bremen prüft derzeit den Einsatz einer Ersthelfer-App. "Wir halten in Bremen einen schnellen Rettungsdienst vor. Bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand sollte jedoch schnellstmöglich innerhalb der ersten Minuten mit Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen werden", sagt Innensenator Ulrich Mäurer (SPD). Ein solch flächendeckendes Rettungsnetz sei nicht realisierbar. Um das zwangsläufig bestehende versorgungsfreie Intervall so kurz wie möglich zu halten, würden auch andere – nicht-rettungsdienstliche – Einsatzkräfte, die sich in der Nähe des Einsatzortes befänden, alarmiert und darüber hinaus vor Ort befindliche Personen durch die Feuerwehr- und Rettungsleitstelle zu Reanimationsmaßnahmen per Telefon angeleitet. "Eine Ersthelfer-App kann diesen Prozess noch weiter verbessern", betont Mäurer gegenüber dem WESER-KURIER.
Derzeit würden verschiedene App-Modelle geprüft. Die Spannbreite reiche von einer Alarmierung von Fachpersonal bis hin zur völligen Öffnung für jede Person, die bereit sei, sich dafür freizuschalten, erklärt die Sprecherin des Innenressorts, Rose Gerdts-Schiffler. Die Option mit Ersthelferinnen und Ersthelfern das versorgungsfreie Intervall verkürzen zu können, sei sehr interessant.
Der Landkreis Wesermarsch geht diesen Weg seit 2018. "Die Digitalisierung ist die Neuerung der letzten 30 Jahre schlechthin. Der Rettungsdienst wird immer einige Zeit brauchen, bis er vor Ort ist, gerade auch im ländlichen Raum. Deshalb ist es so wichtig, alle Möglichkeiten zu nutzen, zum Beispiel durch Ersthelfer-Apps", sagt der Kreisgeschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Peter Deyle. Im Landkreis sind laut Deyle 476 Helferinnen und Helfer registriert, insgesamt habe es 185 Alarmierungen über die App gegeben, davon 78 Einsätze. Voraussetzung sei die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs in den vergangenen zwei Jahren. "Bei einem Notruf werden von der Leitstelle parallel vorsorglich drei Ersthelferinnen und Ersthelfer in einem Umkreis von 1000 Metern alarmiert, das läuft über GPS. Einer von ihnen wird zum Standort eines automatischen Defibrillators gelotst, der zum Einsatzort gebracht wird", erklärt Deyle das Prinzip. "Die Apps sind eine große Chance, ihr Einsatz hängt aber davon ab, dass genug Menschen bereit sind, sich in Erster Hilfe zu engagieren."
Deutschland habe dabei großen Nachholbedarf, insbesondere auch bei der Laienreanimation, sagt Andreas Fach, Kardiologe am Bremer Klinikum Links der Weser, und verweist auf Zahlen des Deutschen Reanimationsregisters. Demnach haben in den vergangenen Jahren zwar immer mehr Laien bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand reanimiert. "Allerdings greifen immer noch zu wenige Menschen im Notfall ein. Im Jahr 2020 wurde nur bei gut 40 Prozent aller Herz-Kreislauf-Stillstände eine Reanimation durch Laien begonnen", heißt es in einer Mitteilung. In anderen Ländern wie den Niederlanden oder Schweden liege die Quote bei bis zu 80 Prozent.
Das decke sich mit Analysen des Bremer Instituts für Herz- und Kreislaufforschung, das für wissenschaftliche Studien der Stiftung Bremer Herzen zuständig ist. "Auch bei Patienten mit bekannten Herzerkrankungen, bei denen möglicherweise ein Lerneffekt von Angehörigen oder dem Umfeld zu erwarten gewesen wäre, war diese Rate bedauerlicherweise nicht höher", so Fach. 64 Prozent der Herz-Kreislauf-Stillstände treten laut dem Deutschen Reanimationsregister zu Hause auf, bis zu 45 Prozent werden von Familienangehörigen, Freunden oder anderen Personen beobachtet. "Wenn mehr Menschen sofort mit einer Herzdruckmassage beginnen würden, könnten jedes Jahr in Deutschland 10.000 Leben gerettet werden", betont der leitende Oberarzt.
Er sieht zwei Gründe für die vergleichsweise niedrige Quote in Deutschland: Zum einen sei das Bewusstsein in der Bevölkerung nach wie vor noch nicht da, dass es jederzeit jeden treffen könne. "Und es finden nicht so viele Schulungen statt, wie es wünschenswert wäre. Wir müssen dahin kommen, auch schon Kinder und Jugendliche regelhaft zu schulen", fordert Fach.
Dieses Ziel verfolgt die bundesweite Initiative "Wir beleben Deutschland wieder" (#ichrettedeinleben) des Deutschen Rats für Wiederbelebung: Sie hat eine Petition gestartet, wonach Wiederbelebungsunterricht verpflichtend ab der 7. Schulklasse eingeführt werden soll. In Dänemark sei dies seit 2005 gesetzlich festgeschrieben, seitdem habe sich die Laienreanimationsquote von 20 Prozent im Jahr 2000 auf mehr als 60 Prozent in 2020 gesteigert. "Jedes Kind kann mit nur zwei Schulstunden pro Jahr mit seinen eigenen Händen Leben retten", teilt die Initiative mit. Mehr als 33.000 Menschen haben die im September gestartete Petition mitgezeichnet (Stand Sonntag).