Nachdem am Dienstag ein 50-jähriger Mann aus Bremen-Marßel Opfer einer Lynchjustiz-Attacke geworden ist, hat sich nun ein erster Täter bei der Polizei gestellt. Frank Passade, Sprecher der Staatsanwaltschaft Bremen, bestätigt auf Nachfrage: Der Mann habe zugegeben, einer der Schläger gewesen zu sein, die gegen 13 Uhr in eine Wohnung eines Mehrparteienhauses an der Upsalastraße in Marßel eingedrungen sind und dort einen Bewohner zusammengeschlagen und schwer verletzt haben. Zwischenzeitlich schwebte das Opfer dieses Überfalls in Lebensgefahr, sodass die Polizei wegen versuchter Tötung ermittelt.
Auslöser der Gewaltaktion war ein Fernsehbeitrag des RTL-Magazins Punkt 12. Der Sender hatte darin geschildert, wie Reporter sich im Internet als 13-jähriges Mädchen ausgaben, um Kontakt zu vermeintlich Pädophilen herzustellen. Der Film zeigte in der Folge einen Mann aus Bremen, dessen Verhalten vor einem Supermarkt durch die Reporter als verdächtig beschrieben und dabei gefilmt wurde. Der Mann wurde dabei durch Pixel unkenntlich gemacht. Einige Zuschauer der Sendung meinten dennoch, in dem Beitrag Person und Wohnort des Mannes erkannt zu haben. Eine Gruppe von etwa zehn Personen versammelte sich daraufhin an dem Mehrfamilienhaus in Bremen-Nord und überfiel den angeblich Pädophilen. Doch derzeit geht die Polizei Bremen davon aus, dass in dem betroffenen Wohnhaus niemand mit pädophiler Neigung wohnt.
Selbst, wenn der jetzt zum Opfer gewordenen 50-Jährige der Mann aus dem Beitrag gewesen wäre, hätte die Selbstjustiz nach jetzigem Stand den Falschen getroffen. Denn der im Fernsehen gezeigte Mann wandte sich noch am Tag der Ausstrahlung an die Polizei. Laut Polizei hatten danach intensive kriminalpolizeiliche Ermittlungen das Ergebnis, dass der Mann in keinerlei Zusammenhang mit dem in der Sendung dargestellten Fall der Pädophilie steht. Er sei er lediglich den RTL-Reportern als jemand aufgefallen, „der sich vor einem Einkaufszentrum komisch verhält“, zitiert die taz in einem Bericht Passade.
Anwohner und Nachbarn in Marßel zeigen sich betroffen und entsetzt über das Geschehen. Eine junge Frau, die seit vier Jahren in dem betroffenen Haus wohnt, berichtet von Hilferufen, die sie während der Tat gehört habe. "Es hat furchtbar gepoltert. Dann haben wir gesehen, wie mehrere Personen schnell aus dem Haus rannten." Dann sei die Polizei gekommen. Über das Opfer aus der Wohnung über ihr weiß die Mutter von zwei Kindern nicht viel. Ruhig sei der Mann. "Den sieht und hört man nicht." Die Upsalastraße sei ohnehin eine ruhige Straße, sagt die Anwohnerin. Umso mehr ist sie über die Tat entsetzt: "Das ist einfach unmenschlich, da fehlen einem die Worte." Ein anderer Anwohner meint: "Ich hätte nie gedacht, dass so etwas hier passieren könnte." Zur Tat selber sagt er: "Man darf keine Selbstjustiz üben."
"Selbstjustiz geht gar nicht"
Axel Schweizer sieht das genauso. "Selbstjustiz geht gar nicht", sagt der 59-Jährige, der in Marßel in einem Kindergarten arbeitet. Unter den Kollegen sei der Überfall kein großes Thema. Beim Friseur im Einkaufszentrum dagegen schon. "Darüber wird hier viel geredet", erzählt die Salonleiterin, die namentlich nicht genannt werden möchte. Sie selbst habe im Radio davon gehört. "Es ist schrecklich, dass ein Unschuldiger einfach zusammengehauen wird."
Auch die Polizei weist ausdrücklich darauf hin, dass niemand das Recht habe, die Justiz in die eigene Hand zu nehmen. "Keine Form und kein Anlass zur Selbstjustiz sind tolerierbar. Es ist die Aufgabe der Staatsanwaltschaft und der Polizei, Straftaten zu verfolgen", heißt es in einer Erklärung.
Selbstjustiz wird in der Gewaltforschung als Vigilantismus bezeichnet und gilt allgemein als ein Bestandteil von politischer Gewalt mit fließenden Grenzen zum Terrorismus, abhängig von den jeweiligen Umständen der Tat. Auch spontane und ungeplante Aktionen werden so bewertet, weil dahinter ein grundsätzlicher Konflikt mit dem Staat stehe. Demnach beklagen die Täter ein Nicht-Funktionieren staatlicher Instanzen. Durch die angebliche Abwesenheit von Polizei oder Inaktivität von Gerichten verliert der Staat aus ihrer Sicht die Legitimation für sein Gewaltmonopol.